ADHS: Wie die wilden Kerle lernen

Concerta fällt unter die verschreibungspflichtigen Betäubungsmittel. Es hilft Erwachsenen mit ADHS, auch Konstantin nimmt es seit einigen Jahren. Bild: Kevin Woszczyna

Concerta fällt unter die verschreibungspflichtigen Betäubungsmittel. Es hilft Erwachsenen mit ADHS, auch Konstantin nimmt es seit einigen Jahren.
Foto: Kevin Woszczyna

Impulsivität wird zur inneren Unruhe – die Störung wird weniger offensichtlich

Während des Übergangs in das Erwachsenenalter können sich die Symptome also ändern. Die Hyperaktivität und Impulsivität gehen in eine innere Unruhe über, denn als Erwachsene haben ADHS-ler oft gelernt sich besser zu beherrschen. Konzentrations- und Aufmerksamkeitsschwierigkeiten bleiben jedoch bestehen. Oft führt eine mangelnde Alltagsorganisation zu weiteren Problemen – besonders im Beruf, der Ausbildung oder im Studium. Hinzukommen können persönlicher Leidensdruck, der zum Beispiel durch die Geheimhaltung der Krankheit entsteht, oder Probleme in sozialen Beziehungen.

Kinder wie Erwachsene können mit dem Wirkstoff Methylphenidat behandelt werden. Dieser verändert die Verfügbarkeit und Wirkungsdauer der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin im Gehirn. Erst seit Juli 2011 ist das Medikament für Erwachsene zugelassen und wird von gesetzlichen Krankenkassen erstattet. Die medikamentöse Therapie verspricht die schnellsten Behandlungserfolge bei der Reduktion der Symptome und damit dem Rückgang des individuellen Leidensdrucks. Eine Alternative bietet die psychotherapeutische Behandlung. Diese ändert zwar an der Kernsymptomatik wenig, bietet aber das Erlernen von Strategien, die einen effizienten Umgang mit den Störungsauswirkungen ermöglichen. Dazu gehören beispielsweise Methoden zur Planung des Tagesablaufs oder die Veränderung der Selbstwahrnehmung um optimistisches Denken zu fördern.  

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ADHS ist eine Störung, die im Kindesalter beginnt. 3 bis 7 Prozent der Kinder und 4,4 Prozent der Erwachsenen haben ADHS. Eine Behandlungsnotwendigkeit besteht aber erst, wenn die Symptome zu ernsthaften Störungen im Arbeitsbereich und Sozialverhalten führen. Foto: Heike Berse/ pixelio.de

Eine frühe Behandlung kann möglichen Begleitstörungen vorbeugen

„Grundsätzlich ist eine möglichst frühe Behandlung sinnvoll“, sagt Dr. Wessel. Denn wenn seit der Kindheit immer wieder Nachteile und Misserfolgserlebnisse das Leben prägen, könne es zu sekundären Folgen wie Depressionen oder einer Suchterkrankung kommen, die dann als eigenständige Begleitstörung behandelt werden müssen. Studien haben ergeben, dass 10 bis 30 Prozent der Suchtkranken eine unerkannte ADHS haben.

Mit bestimmten Kompensationsstrategien kann die ADHS im Kindesalter gut in Schach gehalten werden. Die Schule beispielsweise bietet den Kindern eine klare Vorstrukturierung. Der Stundenplan steht fest und die Lehrer geben klare Verhaltensregeln und Anforderungen. Wenn das Kind ein klar strukturiertes Elternhaus erlebt, in dem Eltern die Hausaufgaben kontrollieren und feste Abläufe in den Tag integrieren, kann es sein, dass sich eine leicht ausgeprägte Störung gar nicht im Verhalten zeigt.

Konstantin bot sich einen solch konstantes Umfeld erst mit sechs Jahren. „Die ersten sechs Jahre habe ich bei meiner Mutter gelebt, begleitet von einem Sorgerechtsstreit“, erzählt er. „Unregelmäßig habe ich Zeit bei ihr oder bei meinem Vater verbracht. Nach meiner Einschulung kam ich dann dauerhaft zu meinem Vater. Der Umbruch kam aus heiterem Himmel – unerwartet und plötzlich.“

Wenn es nach dem Schulamt seines Heimatortes gegangen wäre, hätte Konstantin nach der 4. Klasse  eine Hauptschule besucht. Seine Lehrer stellten ihm jedoch unabhängig davon eine Real-/Gesamtschul-Empfehlung aus; bis zur 13. Klasse besuchte er daraufhin eine Gesamtschule. Auch wenn sich die Aufmerksamkeitsstörung und die Hyperaktivität bei Konstantin durchgehend äußerten, empfand er die klare Schulstruktur immer als wichtigen Halt.  

Viele Studenten mit ADHS fühlen sich überfordert

Viele Studenten mit ADHS fühlen sich überfordert und sind ohne Hilfe durch eine Therapie oder Medikation nicht in der Lage, ihren Alltag zu strukturieren und zu bewältigen. Foto: D. Braun/ pixelio.de

Selbstständigkeit im Studium ist eine Hürde für ADHS-ler

Als 23-jähriger Student der Ingenieurwissenschaften steht Konstantin vor neuen Herausforderungen: „Im Studium fällt es mir schwieriger, zurecht zu kommen – besonders ohne die Tabletten. Alles muss selbstständig organisiert und bewältigt werden, ich muss mich alleine motivieren und habe keinen, der mich kontrolliert oder strukturiert.“

Wenn er auf die Medikamente verzichtet, wie er das für einige Monate einmal testweise ausprobierte, merkt er das beim Lernen sofort: Angestrengt schaut er auf eine Vorlesungsfolie, versucht alle Informationen aufzunehmen. Er versteht alles. Doch im nächsten Moment ist es so, als hätte er sich die Folie nie angesehen: Alles ist vergessen. „Wenn ich eine Seite lese und am Ende angekommen bin, weiß ich nicht mehr was ich da gerade gelesen habe.“ Für vieles braucht Konstantin vor allem mehr Zeit. „Energie habe ich genug, nur Zeit nicht.“ Im Universitätsalltag, in dem Leistung punktgenau abrufbar sein muss, ist kein Platz für ADHS.

Im Laufe seines Lebens hat Konstantin erst langsam gelernt, die Hilfe einzufordern, die er braucht, um die gleichen Voraussetzung wie alle anderen zu haben. Nach mehreren Semestern hat er nun die Konsequenz aus seinen Erfahrungen im Studium mit ADHS gezogen. Er hofft, sein Studium und sein Arbeitspensum mit einem Nachteilsausgleich an seine Störung anpassen zu können. Ein bewilligter Nachteilsausgleich könnte ihm zum Beispiel mehr Flexibilität bei Abgabefristen oder Prüfungszeitverlängerungen einräumen.

Doch das fällt ihm nicht leicht: „Was ich paradox finde: Menschen wie ich müssen einen solchen Antrag komplett eigenständig einleiten. Wer Schwierigkeiten hat, sich selbst zu organisieren, wird ebenso Probleme haben, einen Antrag zu stellen und den dazugehörigen Papierkram zu erledigen. Das ist das als würde man einen Menschen mit gebrochenem Arm dazu auffordern, seinen Gips selbst anzufertigen“, kritisiert er.

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