Duell zum Brexit: Bleiben oder gehen?

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Hochspannung bis zur letzten Sekunde: Großbritannien zieht es heute zur Wahlurne. Das Referendum zum Verbleib in der Europäischen Union wird vollzogen. Umfragewerte und Buchmacher liefern keine eindeutigen Ergebnisse. Nicht nur die Briten sind sich also uneinig, sondern auch unsere Autoren Dominik Reintjes und Julian Olk.

Tut euch keinen Zwang an, liebe Briten

meint Dominik Reintjes

Fast schon flehend betteln einige deutsche Brexit-Gegner derzeit Großbritannien an, uns doch nicht im Stich zu lassen und in der Europäischen Union zu bleiben. Doch warum eigentlich? Wenn es heute zum Brexit kommt, dann zahlen die Briten selbst den höchsten Preis. Die Folgen für Deutschland und die EU wären hingegen überschaubar.

Selbstdarsteller statt Partnerland

Zweifelslos wäre ein Ausstieg eines so wichtigen Handelspartners wie Großbritannien eine politische Herausforderung für beide Beteiligten. Doch genau genommen ist die Europäische Union für die Briten ein wichtigerer Handelspartner, als die Briten für uns: Nur drei Prozent der Waren exportieren die EU-Länder in das Königreich auf der anderen Seite des Ärmelkanals. Andersherum exportieren die Briten 13 Prozent ihrer Waren in die EU. Sie sind also wesentlich abhängiger, als sie es wohl selbst denken. Derzeit hat Großbritannien ein größeres Haushaltsdefizit als Griechenland. Die Staatverschuldung lag 2013 bei 92,3 Prozent des BIP, das entspricht einem Wert, wie ihn auch Krisenland Spanien zu dieser Zeit hatte. An der wirtschaftlichen „Stärke“ des Königreiches kann es also nicht liegen, dass sich Brexit-Gegner den Verbleib Großbritanniens in der EU wünschen. 

An der großen Verbundenheit der Briten zur Europäischen Union kann es aber auch nicht liegen, die gibt es so nämlich überhaupt nicht: Kein anderes Mitgliedsland stimmt so häufig gegen Gesetzvorschläge der EU und vor allem gegen Vorschläge aus Deutschland. Hinzu kommen Vorzüge der Briten: So erhalten sie einen großzügigen Nachlass bei Beitragszahlungen zum EU-Haushalt, den „Britenrabatt“. 

Insgesamt scheinen sie sich noch nie mit dem Grundkonzept eines Länderverbundes angefreundet zu haben: der Solidarität. Für diese müssen eben mal Opfer gebracht werden, und sei es, dass man seine ach so geliebten Pfund gegen den derzeit stabileren Euro eintauscht, oder sich bei der Flüchtlingskrise stärker auf die solidarische deutsche Seite schlägt. Aus dem Schengen-Abkommen hält sich Großbritannien auch raus: Sie kooperieren nur mit den Mitgliedsstaaten des Abkommens und haben es nicht unterzeichnet. Einen ähnlichen Status könnten sie bei einem möglichen Brexit behalten. Die Grenzkontrollen würden somit für Einreisende gleichbleiben. 

Ein sanfter Ausstieg wäre ideal 

Gehen wir doch einfach mal von einem Brexit aus: Optimal wäre dann der Abschluss eines Handelsabkommens zwischen Großbritannien und der EU. So würde es keine Grenzzölle für den gegenseitigen Handel geben, verändern würde das den bisherigen Austausch also nicht. Einzige Ausnahme sind nicht-tarifäre Handelshemmnisse, wie Umweltstandards und Kennzeichnungspflichten, falls diese abweichen. Mit solchen Kosten müssten allerdings auch nur die britischen Unternehmer rechnen. 

In so einer Beziehung steht derzeit schon beispielsweise die Schweiz zur Europäischen Union und es funktioniert: Nach den USA und China ist die Schweiz der drittwichtigste Handelspartner. Die EU importiert 5,9 Prozent aller Waren aus der Schweiz, 8,4 Prozent der Ausfuhren wandern von den Mitgliedsländern der Europäischen Union in die Schweiz. So ein Handelsverhältnis wäre für Großbritannien und die EU also auf keinen Fall schlimm, wenn es auch so gut funktionieren würde. 

Und wer weiß, vielleicht wäre ein Ausstieg Großbritanniens auch der Anfang einer Generalüberholung der Europäischen Union. Denn nach Euro-Krise, Flüchtlingsdebatte und jetzt dem Brexit wäre ein engeres Zusammenarbeiten der Mitgliedsländer wichtig, um solchen Krisen in Zukunft erfolgreicher vorzubeugen. Gerade in Deutschland wären auch kulturelle Folgen mehr als überschaubar, denn die englische Küche werden wir, auch nach einem Brexit, nicht vergöttern und aus der Europameisterschaft im Fußball können wir die Briten auch weiterhin schmeißen.

 

Vote remain – um eurer Willen

findet Julian Olk

Ludwig Erhard hatte einst gesagt: „Ein Kompromiss ist die Kunst, einen Kuchen so zu teilen, dass jeder meint, er habe das größte Stück bekommen.“ Man frage sich, was das mit Großbritannien und der Europäischen Union zu tun habe? Nun ja, es gibt Mitgliedsstaaten, die lassen sich auf einen Kompromiss innerhalb der Wertegemeinschaft ein, und bekommen nicht das größte Stück des Kuchens. Und dann gibt es in Großbritannien noch diejenigen, die selbst mit dem allergrößten Stück nicht zufrieden sind – im Volksmund auch Brexit-Befürworter genannt.

Johnson und der Brexit-Irrsinn

An ihrer Spitze: Boris Johnson, ehemaliger Bürgermeister Londons und das Zugpferd der Kampagne Pro-Brexit. Die Argumente, die der Conservative-Abgeordnete bei jedem seiner exzentrischen Auftritte hinaus posaunt, sind immerzu dieselben: Auch die mittlerweile reformierten Rechte der Briten in Brüssel seien nicht weitreichend genug; außerdem sei die EU dabei einen Superstaat zu errichten, was in der Historie konsequent gescheitert sei.

Mal abgesehen vom irrwitzigen und törichten Hitler-Vergleich, den Johnson dabei macht – er verschließt seine Augen unerbittlich vor den eigentlichen Fakten. Zu unterstellen, die EU errichte einen Superstaat nach Römischen Vorbild, ist schlichtweg falsch. Und dass die Rechte Großbritanniens innerhalb der EU nicht ausreichen, würde wohl auch in den meisten Comedy-Klubs für einen Lacher herhalten. Die Briten bekommen ihre so oft zitierten Extrawürste weiterhin: Den vollen EU-Beitrag zahlen? Keine Grenzkontrollen in Europa? Sich dem Fiskalpakt unterwerfen? Alles ohne die Briten. Mit der Flüchtlingsthematik will man erst gar nicht anfangen. 

„Wir wären ein ärmeres Land“ (David Cameron)

Was Johnson und seine Mitstreiter nicht sehen, ist schlichtweg die Wahrheit. Traurig, wo doch fast jedem Laien die Folgen eines Brexits auf der Hand liegen. „Je größer der Markt, desto größer der Wohlstand für alle.“ Dass diese Weisheit ausgerechnet der Feder des Ökonomen Adam Smith entstammt, der im heutigen – vorrangig proeuropäischen – Schottland lebte, kann doch kein Zufall sein. Und was soll man sagen, er hat recht. Das Vereinigte Königreich allein wäre ein weltökonomischer Zwerg, der gerade einmal drei Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmachen würde. 

Ob OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), WTO (Welthandelsorganisation), London School of Economics oder britisches Finanzministerium – alle sind sich sicher, der Brexit brächte den Crash: das BIP auf der Insel selbst könnte kollabieren und im schlimmsten Fall um 7,7 Prozent (OECD) sinken. Damit würde eine Rezession einhergehen, die jeglichen Playern, aber vor allem dem bürgerlichen Wohlstand enorm schaden würde. Einerseits ginge das reale Einkommen der Haushalte zurück. Andererseits stiegen die Preise für Importprodukte drastisch an. Der britische Gewerkschaftsbund TUC sieht zudem vier Millionen Jobs durch einen Brexit gefährdet. 

Der Super-Gau droht

Zu glauben, nach einem Brexit könne all dies mit einem Freihandelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU gelöst werden, ist der reinste Trugschluss. Es würde allein zwei Jahre dauern, bis Briten und Union überhaupt die „Scheidung“ vollzogen hätten. Die weiteren Verhandlungen könnten dann bis zu zehn Jahre dauern. Aufgrund der Schnelllebigkeit des Marktes wäre Großbritannien nicht mehr als ökonomisches Freiwild.

Schon jetzt befinden sich die Börsenkurse im Sinkflug. Nicht auszumalen, wie die Entwicklung bei einem Brexit aussähe. Es droht ein schwarzer Freitag – mit Folgen über ganze Jahrzehnte, und zwar auch für die EU! Ein Szenario wie in der Krise von 2008, in der mitunter auch ein Drittstaat (die USA) die größte Krise in der Historie der Union auslöste – und das muss um jeden Preis verhindert werden.

 

das-duell-feederFoto: stockxchng/bizior, S. Hofschlaeger/pixelio.de, Montage: Brinkmann/Schweigmann 
Teaserfoto: flickr.com/Marco Verch
Beitragsbild: flickr.com/descrier

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