61 Prozent studieren länger

Überfordert, gestresst, orientierungslos – Studieren nach Bologna ist kein Zuckerschlecken. 2010 haben gerade einmal 39 Prozent der Absolventen ihren Abschluss in der Regelstudienzeit geschafft, der Studienreform sei Dank. Knapp zehn Jahre nach Beschluss des Bologna-Prozesses rücken die Zahlen aktuelle Hochschulbedingungen in kein allzu positives Licht. Experten diskutieren über die Studiensituation im Bachelor- und Mastersystem und ein TU-Student verrät, warum er eine Verlängerung seines Studiums sogar provoziert.

Kevin Ohlmann studiert Rehabilitationspädagogik an der Technischen Universität Dortmund. Seit dem Wintersemester 2012/2013 ist der 23-Jährige im siebten Semester eingeschrieben – und überzieht somit die Regelstudienzeit. In einem Café in der Dortmunder Innenstadt erzählt er seine Geschichte: von Orientierungslosigkeit, Geldknappheit und dem Weg, den er für sich gewählt hat. Wie viele Studierende die Regelstudienzeit nicht einhalten, hat eine Studie des Statistischen Bundesamtes ergeben, die im Mai veröffentlicht worden ist und sich auf Daten aus dem Jahr 2010 bezieht. Einem Spiegel Online-Bericht zufolge packen demnach nur zwei von fünf Studierende ihr Studium in der dafür vorgesehen Zeit. Das Verblüffende: Kevin zögert seinen Bachelorabschluss absichtlich hinaus.

Kevin überzieht die Regelstudienzeit. Foto: Hannah Biermann

Kevin überzieht die Regelstudienzeit. Foto: Hannah Biermann Teaser: Olga Meier-Sander / pixelio.de

Bachelor-Absolventen studieren schneller

Insgesamt 309 200 Studierende haben 2010 ein Erst-, Zweit- oder Masterstudium abgeschlossen, 39 Prozent davon in der Regelstudienzeit. Dem Statistischen Bundesamt zufolge lassen sich Master-Absolventen im Vergleich mehr Zeit – 48 Prozent der Studierenden schafften ihren Abschluss in der Regelstudienzeit, bei den Bachelor-Absolventen waren es 60 Prozent.

Stichwort Studienreform: Um den Europäischen Hochschulraum zu vereinheitlichen und sowohl die internationale Vergleichbarkeit als auch Wettbewerbsfähigkeit zu fördern, ist 1999 der Bologna-Prozess angestoßen worden, an dem sich mittlerweile 47 Staaten beteiligen. Umsetzungsfrist war das Jahr 2010 – das macht die Studie des Statistischen Bundesamtes besonders spannend. Denn die Zahlen lassen Rückschlüsse auf aktuelle Studienbedingungen zu und somit auch auf das Gelingen der Hochschulreform.

Erhöhter Arbeitsaufwand

Ein Ziel der Bologna-Erklärung war die Einführung eines standardisierten Abschlusssystems, inklusive einer einheitlichen Kreditpunktevergabe. Durch die Umstellung zum Bachelor- und Mastersystem hat sich für viele Studierende der Arbeitsaufwand erhöht. In manchen Fällen wird der Lehrstoff eines vierjährigen Magisters heute innerhalb eines dreijährigen Bachelorstudiums vermittelt. Das Resultat ist eine Überlastung, die einige Studierende dazu veranlasst, die Regelstudienzeit zu überziehen.

Nicht so Kevin. „Für mich war weder das Tempo des Studiums entscheidend noch der Leistungsdruck“, sagt der angehende Rehabilitationspädagoge. Den straffen Studienverlauf im Bachelorsystem findet er sogar OK. Dass er dennoch die Regelstudienzeit überzieht, hat einen anderen Grund: „Ich bin unsicher, was nach dem Studium kommt und wofür ich qualifiziert bin.“ Vielen seiner Freunde gehe es ebenso.

Prof. Dr. Uta Wilkens ist Prorektorin für Lehre an der RUB. Foto: Pressestelle RUB

Prof. Dr. Uta Wilkens ist Prorektorin für Lehre an der RUB. Foto: Pressestelle RUB

Trotz der vielfach geäußerten Kritik an der Bachelor- und Masterreform könne man aus den Zahlen des Statistischen Bundesamtes schließen, dass mehr Studierende ein Studium in der Regelstudienzeit abschließen, meint Prof. Dr. Uta Wilkens, Prorektorin für Lehre, Weiterbildung und Medien an der Ruhr-Universität Bochum. „In den früheren Magister- und Diplomstudiengängen sind im Durchschnitt nur etwa elf Prozent der Absolventen in der Regelstudienzeit fertig geworden.“ Ein Fortschritt also?

Das System ist verschult“

Wenn Kevin die Möglichkeit hätte, das Hochschulsystem zu verbessern, würde er Praxissemester oder längere Projektphasen einführen. „Das System ist verschult“, sagt er. Und weiter: „Ich habe kein konkretes Ziel, auf das ich praktisch hinarbeiten kann.“ Aus seiner Orientierungslosigkeit heraus überzieht Kevin die Regelstudienzeit. Lieber ein oder zwei Semester länger studieren als gar nichts tun. Hinzu kommt, dass mit den steigenden Studierendenzahlen die Seminarplätze begrenzt und Kurse überfüllt sind. „In einem Seminar mit bis zu 80 Teilnehmern ist das Arbeiten schwierig. Da sinkt die Motivation“, findet Kevin. In solchen Fällen weiß Johannes Blömeke, Dortmunder AStA-Referent für Hochschulpolitik, Rat: „Sobald ein Pflichtkurs nicht zur Verfügung steht, sollte man mit dem Studienkoordinator oder der Studienvertretung sprechen.“

Der Bologna-Erklärung zufolge beträgt die Dauer für einen Bachelorstudiengang sechs bis acht Semester, mit dem Master kommen gegebenenfalls zwei bis vier Semester hinzu. „Das Ergebnis des Statistischen Bundesamtes lässt allerdings den Schluss zu, dass die Studiengänge nicht für die zehn Semester ausgelegt sind“, sagt Blömeke. Er ist der Meinung, dass jeder Studiengang einer genaueren Untersuchung unterzogen werden müsse. Gerade bei neu eingeführten Studiengängen kann es passieren, dass der studentische Arbeitsaufwand nicht richtig berechnet wird. Dem stimmt Wilkens nicht uneingeschränkt zu. Sie verweist darauf, dass die Ursachen für das Nichteinhalten der Regelstudienzeit vielfältig und oftmals im Curriculum nicht begründet seien. „Die Realität ist, dass ein Teil der Studierenden neben dem Studium aus verschiedenen Gründen erwerbstätig ist, Familienpflichten zu erfüllen hat, berufsbegleitend studiert oder sich einfach mehr Zeit lassen möchte“, so die RUB-Professorin.

Kein Bafög für Überzieher

Wirklich häufig ist Kevin nicht mehr in der Uni. Neben der Abschlussarbeit und einem Praktikum fehlt dem Bachelor-Studenten noch die Teilnahmebescheinigung für ein einziges Seminar – und das absolviert er online. Da bleibt genug Zeit für einen Kaffee in der Stadt und seinen Nebenjob. Seit wenigen Wochen hat Kevin eine zweite Stelle. Das nicht ohne Grund. Denn als ehemaliger Bafög-Empfänger wird dem Studenten ohne die staatliche Förderung das Geld knapp. „Es ist eine finanzielle Belastung, wenn man das Studium überzieht“, sagt er. Neben seiner Tätigkeit bei der Lebenshilfe jobbt der Student nun als Betreuungskraft in einem Schülercafé.

AStA-Referent Johannes Blömeke sieht das BAFöG-Amt in einer Krise. Foto: Pflichtlektüre

AStA-Referent Johannes Blömeke ist für eine genauere Berechnung der Regelstudienzeit. Foto: Pflichtlektüre

Eine Unterstützung über die Förderungshöchstdauer, das heißt die Regelstudienzeit, hinaus kann nur mit einer gesetzlich anerkannten Begründung beantragt werden. Darunter fallen beispielsweise Krankheiten, Behinderungen, Gremientätigkeiten oder Kindererziehung. „Eine Regelung wie zum Beispiel ‚Bafög wird für die anderthalbfache Regelstudienzeit gewährt´ wäre absolut zu begrüßen“, findet AStA-Referent Blömeke. Hochschulseitig gebe es beim Nichteinhalten der Regelstudienzeit zunächst einmal keine Konsequenzen für die Studierenden, versichert Wilkens. Allerdings fürchtet Kevin eine Bewerbungssituation, in der er einem potenziellen Arbeitgeber die Verlängerung seines Studiums erklären muss.

Faustregeln für ein erfolgreiches Studium

Am Ende stellt sich die Frage: Gibt es Faustregeln, um ein Studium nach Bologna innerhalb der Regelstudienzeit erfolgreich zu meistern? „Wichtig ist, dass sich die Studierenden schon vor dem Beginn des Studiums im Klaren sind, ob sie die notwendigen Vorkenntnisse, zum Beispiel in Mathematik, das Latinum oder Ähnliches für ihr Studium mitbringen“, meint Wilkens. Wer hier in Eigendiagnose Wissenslücken identifiziert, kann seinen Rückstand schon vor Semesterstart aufholen. Das garantieren diverse Hochschulangebote. „Außerdem sollten Prüfungen nicht hinausgeschoben werden. Dann sollte es auch klappen“, sagt Wilkens.

Und Kevin? Er will seinen Bachelor in Rehabilitationspädagogik möglichst schnell abschließen. Mittlerweile weiß er auch, was dann kommt: „Ich habe beschlossen, im Anschluss meinen Master zu machen.“ Eine Entscheidung weniger und einen Schritt weiter, das macht Mut.

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