Lokführer-Streik! Ein Erlebnis-Protokoll

Am Dienstagmorgen hat die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) ihre Mitglieder und Kollegen zum Warnstreik aufgerufen. Zwischen 6 und 8 Uhr wurde die Arbeit niederlegt, um für einen flächendeckenden Tarifvertrag zu kämpfen. In vielen Teilen Nordrhein-Westfalens wurde das Bahnnetz lahm gelegt. So auch in Dortmund und Bochum. Wir haben uns unter die Reisenden gemischt.

Teaser: Komplette Zugausfälle waren keine Seltenheit. Foto: flickr.com / User: schockwellenreiter

Zugausfälle waren am Dienstag keine Seltenheit. Foto: flickr.com / schockwellenreiter

Am Dortmunder Hauptbahnhof

5.42 Uhr: Draußen ist es stockdunkel, das Thermometer zeigt minus sieben Grad Celsius an. Mit Kaffee bewaffnete Menschen patrouillieren durch die Bahnhofshalle. Polizisten und Pendler wirken gleichermaßen müde; das Bahnhofspersonal säubert die Gänge. Vereinzelt werfen Bahnfahrer in spe ihre Blicke auf die Anzeigetafel, die auf den vorgesehenen Streik der Bahnführergewerkschaft GDL hinweist: „Auf Grund von Streiks der GDL ist der Zugverkehr beeinträchtigt.“ Von 6 bis 8 Uhr wollen die Lokführer ihre Arbeit niederlegen, um für einen flächendeckenden Tarifvertrag zu kämpfen. Bisher zeigt die blaue Tafel jedoch keine Auffälligkeiten, zufrieden nickend machen sich viele auf den Weg zum Gleis.

5.53 Uhr: Der RE nach Iserlohn ist der erste Zug, der unpünktlich abfahren soll – fünf Minuten Verspätung. „Alles noch im Rahmen“, murmeln zwei Männer in Anzügen.

6.05 Uhr: Mit fortschreitender Zeit werden immer mehr Verspätungen ausgewiesen. Ungläubige Augenpaare springen abwechselnd von der Anzeigetafel auf Fahrkarten und zurück. Ganz gleich, ob Witten oder Leipzig, hinter der Abfahrtszeit beider Züge steht in einem weißen Kasten: „Verspätung ca. 120 Minuten“. Erste lange Gesichter machen sich auf den Weg zum DB Service Point, um Alternativrouten zu erfahren.

Vielerorts in NRW warten Pendler am Bahnsteig auf ihre Züge. Foto: pixelio.de/User: Rike

Vielerorts in NRW warteten Pendler am Bahnsteig auf ihre Züge. Foto: pixelio.de / Rike

6.10 Uhr: „Das kann doch nicht wahr sein“, schimpft Angela Segovic. Die 21-Jährige aus Dortmund versichert sich am Service Point, dass ihr Zug nach Gelsenkirchen nicht wie vorgesehen fahren wird. Sie hat um 8 Uhr eine wichtige Prüfung für ihre Ausbildung. „Nun muss ich mir wohl ein Taxi nehmen“. Eine teure Alternative. Als Ausweichmöglichkeit wurde ihr ein Regionalexpress um 7.03 Uhr empfohlen, „aber darauf kann man sich ja auch nicht verlassen“. Sagt’s und zieht genervt in Richtung Taxistand.

Der normale Wahnsinn

6.36 Uhr: Die S1 nach Solingen ist mit drei Minuten Verspätung die einzige Linie, die verhältnismäßig pünktlich fährt. Erleichterte Reisewillige lächeln einander an; das gemeinsame Schicksal scheint selbst Unbekannte miteinander zu verbinden. „Für die Lokführer habe ich das Verständnis, für die Chefs allerdings nicht“, sagt Doris Müller-Althaus. Die Rentnerin aus Dortmund wollte eigentlich mit einem RE nach Essen fahren. „Nun fahre ich ca. 15 Minuten länger“, schätzt sie. Dennoch könne sie den Schritt zum Streik verstehen. „Durch die Eurogeschichte sind die Ausgaben gestiegen, aber nicht die Gehälter“. Grundsätzlich unterstütze sie die Streikenden auch, „aber das muss nicht unbedingt in der Pendlerzeit sein. Das ist eine empfindliche Zeit, in der manche verspätete Leute auch ihren Job gefährden. Man muss vorher bedenken, was für Wellen das nach sich zieht.“

Ihr Sitzplatznachbar Markus Thiel sieht den Streik ganz gelassen. „Man kennt das Spiel ja. Wer mit dem ÖPNV fährt, muss auf so etwas gefasst sein“, gibt er zu bedenken. „Es gibt immer Gründe, warum die Bahnen ausfallen.“ Trotz seiner Verspätung zeigt er sich solidarisch mit der GDL. „Streiks sind legitime Mittel für Tarifverhandlungen. Das kommt immer mal wieder vor, heute die Bahn, morgen die Müllabfuhr. Ich habe auch schon gestreikt. Das ist völlig normal und in Ordnung.“

Die Züge blieben zeitweise leer. Foto: pixelio.de / User: Siegfried Fries

Die Züge blieben zeitweise leer. Foto: pixelio.de / Siegfried Fries

6.48 Uhr: Zwölf Minuten später. Eine freundliche Stimme sagt durch, dass im Bochumer Hauptbahnhof zwei bestreikte Züge die Gleise blockieren. Die Zugfahrt werde voraussichtlich in Dortmund-Kley auf unbestimmte Zeit unterbrochen. Thiels Lächeln ist einer finsteren Miene gewichen. „Jetzt sehe ich zu, dass ich schnell zurück zum Dortmunder Hauptbahnhof komme, damit ich mit meinem Wagen fahren kann. Mich ärgert, dass die Information erst so spät kommt. Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich gleich das Auto genommen“, sagt er und verabschiedet sich rennend zum Bus.

6.51 Uhr: Gut für alle Mitreisenden, schlecht für Herrn Thiel: Die Fahrt geht weiter.

6.55 Uhr: In Bochum Langendreer-West füllt sich die Bahn immens, da sich der Bahnführer der vorherigen S-Bahn nach Solingen seiner Passagiere entledigt hat. Eine Mischung aus munterem Treiben diverser Jugendlicher sowie telefonierenden Pendlern erfüllt den Zug mit Lärm. Mittendrin sticht ein untersetzter, blonder Mann heraus, der lesend als Ruhepol im direkten Kontrast zu vielen anderen Fahrgästen steht. In seinen Händen hält er ein Buch: „Karl Marx und Friedrich Engels – Ausgewählte Schriften, Band 1.“ Er lächelt süffisant und blickt ab und an zu den Menschen in Anzügen herüber, als wolle er sagen: „Seht ihr, das Kapital macht euch überall zu Sklaven. Selbst in der Bahn.“

Hauptbahnhof Bochum

7.01 Uhr: Ankunft am in Bochum. Auch hier ist Verwirrspiel angesagt. Welcher Zug fährt wann wohin? Gleisänderungen und Verspätungen werden mündlich von Person A über B und C nach D weitergegeben. Bald ist das halbe Alphabet auf dem Weg zu unterschiedlichen Gleisen. „Nein, der fährt nicht weiter nach Solingen“, versucht ein Mann wild gestikulierend zwei Asiaten zu erklären. Die beiden Männer beraten sich, bis einer der beiden schließlich seine mobile Allzweckwaffe zückt und sich höflich nickend bei dem vermeintlichen Wegweiser bedankt.

Unfreiwillig langer Aufenthalt am Bochumer Hauptbahnhof. Foto: pixelio.de / User: Richard

Unfreiwillig langer Aufenthalt am Bochumer Hauptbahnhof. Foto: pixelio.de / Richard

7.03 Uhr: Am Ende des Bahnsteigs, am Gleis 6 und 7, schimpft eine Frau wie ein Rohrspatz in ihr Mobiltelefon. Sie schildert ihrem offensichtlich begriffsstutzigen Gesprächspartner ihr Zeit- und Transportproblem. Die Tatsache, dass er dies nicht zu begreifen oder schlimm zu finden scheint, erregt sie zusehends und -hörends mehr. Andere Wartende amüsieren sich köstlich und tauschen verstohlen Blicke aus.

7.08 Uhr: Bahnhofshalle – das gleiche Bild wie in Dortmund. Eine Schar von 70 Menschen steht ratlos vor der blauen Anzeigetafel, auf der sieben von neun Zügen als verspätet aufgeführt sind. Achselzucken, Augenbrauen-Laola und ein empörter „20-Minuten-Verspätung“-Kanon ist zu vernehmen. Jedoch scheinen nicht alle Bochumer gestresst zu sein. Eine ältere Dame geht mit einer jungen Frau zum Bäcker und gönnt sich eine Laugenbrezel, nachdem sie ihre verspätete Abfahrtszeit gleichmütig hingenommen hat.

7.14 Uhr: Der Geräuschpegel und die Menschenmasse erinnern in Anbetracht der Anzeigetafel ein wenig an die Börse. Ein Wetteifern von Streikopfern um die lauteste Stimme. Antje, Philipp und Torsten werden via Telefon mit Bedauern darüber informiert, dass Termine nicht eingehalten werden können. Über Lautsprecher verkündet eine Bahnangestellte Abweichtermine und entschuldigt sich für die entstehenden Unannehmlichkeiten.

7.19 Uhr: Es wird langsam hell am Bahnsteig. Die S1 Richtung Dortmund fällt komplett aus, die S1 nach Solingen steht noch immer am Gleis. Ein Mann vom Radio fragt ein junges Mädchen nach ihrer Meinung zum Thema Lokführerstreik. Nach zwei Minuten bedankt sich er sich lächelnd und verschwindet in Richtung Treppe. Das Mädchen ruft freudestrahlend ihre Mutter an und erzählt stolz von dem Interview – immerhin scheint der Streik für manche auch seine positiven Seiten zu haben.

7.24 Uhr: Eine Frau mit einer weißen Plastiktüte hetzt die Treppe hoch und drückt im Stakkato auf den noch grünen Türöffner der Bahn. Die Tür öffnet sich, erleichtert betritt sie mit Schnapp-Atmung die Bahn.

7.25 Uhr: Sie setzt sich. Ihr Blickt trifft die Anzeigentafel von Gleis 7.

7.26 Uhr: Sie verlässt kopfschüttelnd die Bahn.

7.34 Uhr: „Was soll ich machen?“, fragt Mario Atzene. Der Berufsberater aus Bochum hat um 8 Uhr einen Termin in Essen. Er sitzt bereits seit über 20 Minuten auf seinem Platz. „Die Leute sollen für ihr Geld kämpfen, ich verstehe das. Ein bis zwei Tage kann man damit leben“. Wenn es sich noch länger hinziehen würde, „würde es unangenehm werden“. Aber eine Taxifahrt sehe er nicht ein. „Das ist eben Höhere Gewalt“, sagt er.

Stillstand für neue Tarifverträge. Foto: pixelio.de / User: Michael Kraemer

Stillstand für neue Tarifverträge. Foto: pixelio.de / Michael Kraemer

7.44 Uhr: Schimpfwörter haben Hochkonjunktur, „aber die Züge nach Düsseldorf sollen laut Anzeige wieder fahren“. Der RE 6 Richtung Minden hält auch in Dortmund. Also Rückreise antreten.

Zurück in Dortmund

8.04 Uhr: Zurück in der Dortmunder Bahnhofshalle. Noch immer haben vor allem Fernverkehrszüge Verspätung, die aber in den nächsten Minuten eintreffen. Von den zahlreichen Zügen ab 8.19 Uhr liegen lediglich zwei nicht mehr im Zeitplan. Ein Gros der Berufstätigen kommt jetzt erst in den Bahnhof, nachdem der Großteil der Streikauswirkungen kaum mehr zu spüren ist.

8.11 Uhr: Drei Frauen in Pelzmode kommen aus Richtung der U-Bahnen und blicken auf die mittlerweile beinahe verspätungsfreie Anzeigetafel. Nach kritischem, kurzen Blick sagt die Kleinste der Frauen: „Seht ihr, hab ich’s doch gesagt. Die bluffen nur!“

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