Gefangene der Gesellschaft

Man stelle sich vor, in einer liebevollen, glücklichen Familie zu leben, in der Vertrauen selbstverständlich ist und in der man über Probleme jeglicher Art reden kann. Außer über das Problem, was einen am meisten beschäftigt. „Ein so großes Geheimnis für sich behalten zu müssen, macht einen fertig. Manchmal möchte man einfach von einer Brücke springen“.

Sergan (22) studiert Geschichte und Chemie an der Ruhr-Universität Bochum. Um sein Geheimnis zu wahren, möchte er nicht identifiziert werden.

Sergan (22) studiert Geschichte und Chemie an der Ruhr-Universität Bochum. Um sein Geheimnis zu wahren, möchte er nicht identifiziert werden.

Von Lina Friedrich und Natalie Klinger

„Sergan“, der seinen richtigen Namen nicht verraten möchte, ist schwul. Seine Freunde wissen es, seine Kommilitonen auch, aber sein Vater würde ihn verstoßen, würde er es herausfinden. In muslimischen Gesellschaften verstößt man gegen die sozialen Konventionen, wenn man Menschen des gleichen Geschlechts liebt.

Kein Outing in der Familie

Als Sergan in die Pubertät kam, wusste er, dass er „irgendwie anders“ war. Weil er ahnte, schwul zu sein, vermied er es, Madonna zu hören, pinke T-Shirts zu tragen und tuckige Handbewegungen beim Sprechen zu machen. Sergan wollte unter keinen Umständen Klischees erfüllen, die in irgendeiner Weise mit Homosexualität assoziiert werden könnten.

Zum Hören hier klicken: Sergan über das Outing in der Familie und Versteckspiele in der Jugend.

Er hatte Angst, dass seine Familie sein Anderssein bemerken könnte. Er fürchtete, sie würden ihn beschuldigen, die traditionelle Rolle, die er in der Familie einnehmen sollte, nicht zu respektieren. Im Alter von 16 Jahren wollte er ausbrechen, aber Sergan fand nicht die richtigen Worte, als er sich seiner Mutter anvertrauen wollte und gab auf. Dennoch glaubt er, dass sie geahnt hat, was er ihr erzählen wollte.

Homosexualität und der Koran – kein Widerspruch

Es war die Religion, die Sergan half, mit diesen Problemen umzugehen. Entgegen allgemeiner Vorstellungen verbietet der Koran Homosexualität nicht. Stefan Reichmuth ist Professor für Islamwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum (RUB): „Die einzige Stelle, die sich auf Homosexualität bezieht, ist Lot und sein Volk, vergleichbar mit der Legende von Sodom und Gomorrha in der Bibel. Lot klagt die Männer seines Volkes an, miteinander zu verkehren“. Aber die Legende lässt viele Fragen unbeantwortet.
„Es wird weder explizit erwähnt, dass die Männer tatsächlich Sex haben, noch wird überhaupt an Vergewaltigung gedacht“, sagt Reichmuth. Außerdem konzentriere sich die Legende auf verheiratete Männer und könne deshalb nicht als Grundlage für ein Verbot von gleichgeschlechtlicher Liebe etabliert werden.

Harte Strafen

Stefan Reichmuth ist Professor für Islamwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Deutschland gewinnt als Einwanderungsland immer mehr Interesse an dieser Fachrichtung.

Stefan Reichmuth ist Professor für Islamwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Deutschland gewinnt als Einwanderungsland immer mehr Interesse an dieser Fachrichtung.

Nichtsdestotrotz wird Analverkehr mit Auspeitschung im Koran und Steinigung im islamischen Recht geahndet. Trotz des westlichen Einflusses auf die islamische Kultur sind auch heute noch Fälle zu beobachten, in denen Personen getötet werden, weil sie Analverkehr hatten: Im Iran steht Homosexualität immer noch unter Todesstrafe. 1998 berichtete die Nachrichtenagentur Reuters von zwei Vorfällen in Afghanistan: Zwei Männer wurden lebendig begraben, nachdem sie gestanden hatten, miteinander geschlafen zu haben.

Es ist vor allem der passive Part, der von der muslimischen Gesellschaft besonders kritisiert wird. „Der aktive Part wird eher mit dem Männlichen assoziiert, der passive wird als weiblich angesehen, was es zu einer charakterlichen Verirrung macht“, sagt der Experte Reichmuth.

Patriarchalische Strukturen in den Familien erschweren das Leben der schwulen Muslime

Genauer betrachtet ist es nicht die Religion, die für die Unvereinbarkeit von Homosexualität und der muslimischen Kultur verantwortlich ist. Es sind viel mehr die Politik, sozial konstruierte Werte und die patriarchalischen Familienstrukturen in muslimisch geprägten Ländern, die den Zwist verursachen.

„Unsere Familienstruktur ist wie ein prädestiniertes Gemälde, in dem für jeden sein Platz reserviert ist“, sagt Vurat (22) aus Bochum, der aus Erfahrung spricht. Weil seine Eltern in der Türkei leben, muss er seine sexuelle Orientierung zwar im Alltag nicht verstecken; die hohen Erwartungen seiner Familie üben dennoch viel Druck auf ihn aus. „In typischen türkischen Familien redet man nicht über Identitätsprobleme“.

Zum Hören hier klicken: Vurat über die feste türkische Identität.

Die patriarchalischen Strukturen sind der Hauptgrund für Identitätskonflikte schwuler Muslime, weiß Patrick Dörr vom Schwulenreferat der RUB. Mit seiner Arbeit versucht er die Rechte der Homosexuellen an der Universität zu stärken. „Die uneingeschränkte Autorität des Vaters gilt auch noch dann, wenn der Sohn schon erwachsen ist. Söhne sollten gehorsam sein; es ist ihnen nicht gestattet vor der Heirat aus dem elterlichen Haus auszuziehen.“ Deswegen haben sowohl Vurat als auch Sergan Schwierigkeiten, sich gegen den Vater und damit gegen die Tradition zu stellen.

Vurat versucht sich von allem zu distanzieren, was nicht aus dem Koran hervorgeht, so zum Beispiel der Todesstrafe. Die Diskriminierung Homosexueller gehört auch in diese Kategorie. „Ich glaube definitiv an Gott und so wie ich das sehe, gibt es keinen Widerspruch zwischen meiner Religion und meiner sexuellen Orientierung“, sagt der Student.

Verschweigen als Konsens

Der Islam war für Sergan ein Halt – nicht nur auf der Suche nach seiner Identität, sondern auch, als seine Mutter starb. Wenn überhaupt, erfährt zuerst die Mutter von der Homosexualität des Sohns; sie ist in der Regel diejenige, die es dem Familienvater übermittelt. Möglicherweise wird Sergans Vater deshalb nie von dem Geheimnis seines Kindes erfahren. Wüsste er davon, wäre für ihn vermutlich Verschweigen der Weg, diese Identitätsprobleme zu umgehen.

Vurat sagt, nur die Kommunikation zwischen den Generationen könne helfen, das Problem zu lösen.

Vurat sagt, nur die Kommunikation zwischen den Generationen könne helfen, das Problem zu lösen.

Auch Vurats Familie hinterfragt die traditionellen türkischen Rollenvorstellungen nicht. „Man spricht einfach nicht darüber, aus diesen allgemein vereinbarten Traditionen auszubrechen. Es ist ein Tabu“, sagt Vurat. Die Art, wie diese beiden türkischen Familien mit dem Thema umgehen, ist beispielhaft für die weit verbreiteten Konventionen in muslimischen Gesellschaften. „Es ist wirklich sehr gebräuchlich, den Sohn von zu Hause zu verbannen. Wenn er jemals wieder aufgenommen wird, einigt man sich darauf, das Problem zu verschweigen“, erklärt RUB-Homosexuellenbeauftragter Patrick Dörr.

Doppelte Moral für schwule Muslime in Deutschland

Homosexuelle Muslime mit Migrationshintergrund in Deutschland sehen sich sogar mit noch mehr Schwierigkeiten konfrontiert. Es sind nicht nur ihre Familien, denen sie sich erklären müssen, sondern auch ihre Freunde und ihr Arbeits- oder Lernumfeld. Das Problem, das auftritt, ist, dass zum Beispiel in der Türkei die Menschen sich eher über ihre Familie definieren, als über das, was sie tun. „Die soziale Identität ist wichtiger als die persönliche“, fügt Patrick hinzu.

Deutschland unterscheidet sich als hoch individualisierte Gesellschaft deswegen stark von der Türkei. In einer Beziehung zwischen einem Homosexuellen mit Migrationshintergrund und einem schwulen Deutschen können deshalb zusätzliche Hindernisse auftreten: Wenn der schwule Moslem Probleme zu Hause hat, fehlt beim Deutschen oft das Verständnis dafür, warum sein Freund nicht einfach von dort auszieht. Patrick Dörr weiß von solchen Umständen: „Schwule Muslime müssen sich immer vor allen dafür rechtfertigen, warum sie sich verhalten, wie sie sich verhalten. Das kann einen wirklich großen Einfluss auf die Psyche haben.“

Kein Wunder, dass Sergan davon spricht, von einer Brücke springen zu wollen, wenn er seine Gefühle beschreibt.

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