Duell: Sollte ein Arzt alles sagen?

das-duell-elena-judithFrüher konnten Ärzte ihre Patienten ganz nach eigenem Gutdünken behandeln. Diese Zeiten sind zum Glück vorbei. Die deutsche Gesetzgebung schreibt vor, dass der Arzt die Patienten vor der Behandlung über alle Risiken und Nebenwirkungen aufklären muss. Hat diese Errungenschaft tatsächlich nur Vorteile? Unsere Autoren diskutieren darüber, ob man als Patient nicht manchmal freiwillig auf die Aufklärung verzichten sollte.

contra
pro
Eigentlich muss ein Arzt seine Patienten über alle Risiken und Nebenwirkungen, die eine Behandlung hat, aufklären. Da stellt sich mir die Frage: Wenn ich die Behandlung auf jeden Fall brauche, will ich dann wirklich wissen, was alles passieren könnte? Was nützt mir das? Wenn ich tatsächlich Nebenwirkungen bekomme, merke ich das noch früh genug, warum also sollte ich schon vorher Angst davor haben? Andersherum gefragt: Schadet es mir, die Nebenwirkungen zu kennen? Vielleicht ja. Das habe ich schon am eigenen Leib erfahren: Vor einiger Zeit habe ich interessehalber die Nebenwirkungen von einem Fiebermedikament gelesen, das mir schon als Kind immer hervorragend geholfen hat und mit dem ich nie Probleme hatte. Seit ich nun aber weiß, dass das Mittel Übelkeit hervorrufen kann, wird mir schlecht, sobald ich eine Tablette genommen habe. Und das, obwohl ich weiß, dass ich das Medikament eigentlich immer gut vertragen habe.

Worte können krank machen

Was ich in diesem Fall offenbar erlebe, nennt die Fachwelt „Nocebo-Effekt“. Mehrere Studien haben dieses Phänomen untersucht, vorwiegend bei Schmerzpatienten. Das Ergebnis: Wenn ein Patient Schmerzen erwartet, bekommt er sie auch.

Was heißt das aber für die Aufklärungspflicht des Arztes? Ein Arzt soll dafür sorgen, dass es seinem Patienten wieder besser geht. Was aber, wenn sich der Zustand eines Menschen dadurch verschlechtert, dass der Arzt ihm erzählt, was alles passieren könnte? Hat der Arzt in diesem Fall nicht viel mehr die Verantwortung, dem Patienten bestimmte Dinge nicht zu sagen, wenn dies seine Gesundheit gefährden könnte?

Angst vor Nebenwirkungen

Abgesehen vom Nocebo-Effekt kann die Kenntnis der Nebenwirkungen noch eine weitere problematische Folge hervorrufen: Der Patient nimmt das Medikament aus Angst vor den Nebenwirkungen gar nicht erst ein, oder setzt es viel eher wieder ab, als der Arzt ihm empfohlen hat. Dass das nicht gerade zur Genesung beiträgt, liegt auf der Hand. Gerade, wenn der Leidensdruck der akuten Erkrankung gering ist, fürchtet ein Patient die Nebenwirkungen oft mehr als die Krankheit. Selbst wenn der Arzt erklärt, dass die Erkrankung möglicherweise chronisch werden und Organe schädigen kann, tritt bei vielen Patienten der „Bei-mir-doch-nicht-Effekt“ ein. Bei Nebenwirkungen hingegen haben viele Menschen mehr Angst.

Meiner Meinung nach sollte der Arzt in jedem Fall gut abwägen, was er dem Patienten wie mitteilt. Als Patient kann man freiwillig auf die eigentlich vorgeschriebene Aufklärung verzichten. Gerade weil ich weiß, dass bei mir der Nocebo-Effekt durchaus eine Rolle spielt, würde ich mir je nach Krankheit und Behandlung gut überlegen, ob ich tatsächlich alle Risiken erfahren will.

Patienten müssen Ärzten vertrauen

Voraussetzung ist natürlich, dass ich meinem Arzt vertrauen kann und davon ausgehe, dass er besser als ich selbst weiß, was gut für mich ist. Sicherlich ist es nicht einfach, ein solches Verhältnis herzustellen. Ein Problem, das wir oft den Ärzten vorwerfen. Doch auch die Patienten, die Ärzten gegenüber immer skeptischer werden und sich gleichzeitig von fragwürdigen Versprechen der alternativen Medizin locken lassen, müssen sich wieder stärker auf dieses Vertrauen einlassen. Denn nicht die Kenntnis über verschiedene Horrorszenarien, sondern die Hoffnung auf Heilung und das Vertrauen in Arzt und Therapie sind es, die letztendlich die Heilung fördern. Und darauf kommt es an!

Eine medizinische Behandlung ohne gründliche Aufklärung ist Körperverletzung. So sieht es die deutsche Rechtsprechung und so sehe ich es. Egal ob mein Hausarzt ein Grippemittel verschreibt oder eine größere Operation ansteht, Aufklärung ist Pflicht. Und das nicht ohne Grund!

Aufklärung schützt Patienten und Ärzte. Sie stellt sicher, dass man vor einer Behandlung wirklich alle Risiken kennt. Die Beweispflicht ist dabei auf der Seite des Arztes. Geht etwas schief, muss der Arzt nachweisen, dass er vorher alle Komplikationen besprochen hat. Gab es kein schriftliches Einverständnis, muss es Zeugen oder ein Gesprächsprotokoll geben. Allein aus juristischer Sicht ist Aufklärung also ein Muss.

Selbst entscheiden zu können, ist wichtig

Die Patientenaufklärung ist aber viel mehr. Sie ist aktiver Teil der Behandlung und kann Lebensqualität steigern. Gerade im Krankenhaus fühlt man sich oft hilflos. Viele Tests werden über den Kopf hinweg angeordnet und vom Pflegepersonal regelrecht abgearbeitet. Ein ausführliches Gespräch über den weiteren Behandlungsablauf hilft. Der Patient wird aktiv mit einbezogen und kann selbst über das entscheiden, was mit ihm passiert. Der Patient fühlt sich seiner Krankheit nicht mehr ausgeliefert und schöpft neue Kraft. Ohne sich über die einzelnen Medikamente und ihre Nebenwirkungen zu unterhalten, ist so ein Prozess nicht möglich.

Individualität durch Patientenaufklärung

Zu einer richtigen Patientenaufklärung gehören nicht nur die klassischen „Risiken und Nebenwirkungen“. Vielmehr muss die komplette Behandlung beschrieben werden. Auch die Heilungschancen und mögliche Alternativbehandlungen werden aufgezeigt. Jeder Patient ist anders. Wo dem einen Funktionalität wichtig ist, zählt für den anderen die Optik mehr. Es sind zum Beispiel zwei völlig unterschiedliche Dinge, ob sich ein Boxer zum wiederholten Mal die Nase bricht oder ein Sechzehnjähriges Mädchen. Nur wenn dem Patienten alle Risiken bewusst sind, kann er gemeinsam mit dem Arzt die richtige Behandlungsmethode auswählen.

Natürlich kann es vorkommen, dass Patienten aus Angst vor den Nebenwirkungen ein Medikament absetzten. Das passiert allerdings mit und ohne Aufklärung. In einem einfühlsamen Gespräch kann ein Arzt das verhindern. Verschweigt er aber Nebenwirkungen hat er keine Chance. Ohne den Jemanden, der die Häufigkeit und Intensität der Nebenwirkungen einschätzen kann, malen wir uns viel schlimmere Horrorszenarien aus als nötig. Der Arzt kann zudem Lösungswege aufzeigen, falls es zu den gefürchteten Nebenwirkungen kommt. Deshalb ist der Nocebo-Effekt kein Argument gegen Patientenaufklärung.

Alles eine Frage des WIE

Es läuft im Grunde alles auf eine Sache hinaus: Ärzte sollten ihren Patienten generell alles sagen, ankommen tut es nur auf das „wie“. Allein durch das Weglassen lateinischer Fachworte klingen Krankheiten nur halb so bedrohlich. Wer hätte beispielsweise schon gern ein „Hordeolum internum“? Sagt man dazu einfach „Gerstenkorn“, ist es halb so schlimm. Außerdem muss der Patient das Gefühl haben, dass sein Arzt ihm die Wahrheit sagt. Mediziner, die Behandlungen in den Himmel loben, erinnern uns eher an einen Markthändler und erwecken Misstrauen. Ein gutes Arzt-Patientenverhältnis ist ein entscheidender Faktor bei der Genesung und kann sogar einen positiven Placebo-Effekt auslösen. Je mehr ich meinem Arzt Vertrauen kann, desto wirksamer ist die Therapie.

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Foto: Jared Rodriguez/truthout/flickr.com, Montage: Steinborn/Schweigmann

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