Sportsucht: Selbstzweifel bis zum Umfallen

Sport gilt als gut. Hip. Gesund. Wer keinen Sport macht, der wird schnell als faul abgeschrieben. Doch Sport bringt auch Risiken mit sich. Er kann Menschen in die Sucht ziehen – die Sportsucht. Hinweis: Die folgenden Inhalte können Betroffene triggern.

5:00 Uhr am Mittwochmorgen. Lara* hat verschlafen. Dreimal hat sie ihren Wecker nachgestellt. Beim Blick auf die Uhrzeit schreckt sie auf, setzt sich schnell aufrecht hin. Ihre Augen sind aufgerissen, das Herz schlägt ihr bis zum Hals. Ihr ganzer Körper ist voller Adrenalin und sie wird panisch. Schon um 8:00 Uhr muss sie in der Uni sein. Aber sie muss auch noch 15 Kilometer joggen und 30 Minuten Krafttraining machen, bevor sie frühstücken und sich für die Uni fertig machen kann. Ihre Gedanken überschlagen sich. Joggen oder Frühstück – Krafttraining oder Uni? Unruhig versucht sie, ihre Gedanken zu ordnen. Dann greift sie zu ihrem Smartphone und schreibt mit zitternden Fingern eine Nachricht an ihre beste Freundin aus der Uni: „Ich bin total krank, komme heute nicht in die Uni. Sorry!”

Mit Tränen in den Augen schlägt Lara ihr altes Tagebuch zu. Sie hat gerade einen Eintrag aus dem Jahr 2014 vorgelesen. Damals hatte sie gerade ihr Jura-Studium in Bochum angefangen. Heute, drei Jahre später, hat sie langsam verstanden, was damals passiert ist: „Ich war süchtig nach dem Sport. Danach, mich auszupowern. Meinen Körper bis an seine Grenzen zu bringen und darüber hinaus.” Ihre Stimme bebt bei diesen Worten. Es wirkt, als müsste sie sich anstrengen, auch nur ein einziges Wort auszusprechen. Die Erinnerungen an diese Zeiten haben sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt. Sie war sportsüchtig und hat damit ihr eigenes Leben auf den Kopf gestellt. Lara ist kein Einzelfall. Vor allem in Ausdauersportarten ist nach ersten Studien ein recht hoher Anteil der Sportler gefährdet, sportsüchtig zu werden. Genaue Zahlen gibt es dafür aber noch nicht. Das liegt unter anderem daran, dass die Sucht nach Bewegung in Deutschland noch nicht als offizielle medizinische Diagnose anerkannt ist. In den USA dagegen spricht man bereits seit den 90er-Jahren von „Exercise Addiction”. Nach jahrelanger Therapie geht es Lara langsam wieder besser und sie hat einen Neuanfang gestartet. Neue Stadt, neue Uni, neue Menschen. Doch eins steht für sie fest: Sport will sie nicht mehr machen.

Kopf gegen Körper

„Ich konnte einfach nicht mehr damit aufhören. Ich war wie berauscht”, erzählt die 24-Jährige. Sie sitzt auf ihrem großen Bett und spielt unruhig mit ihren Fingern an dem roten Tagebuch herum, das sie auf ihrem Schoß liegen hat. An der hellen Wand hinter ihr hängen viele Bilder, auf denen sie zusammen mit ihrer Familie und Freunden zu sehen ist. Auf keinem einzigen trägt sie Sportkleidung. Nichts in dem kleinen Zimmer ihrer Wohnung deutet darauf hin, dass sie vor ein paar Jahren exzessiv Sport gemacht hat. Aber auf vielen Bildern trägt Lara Verbände an den Füßen, Knien oder Handgelenken. Sie hat sich durch den übermäßigen Sport oft verletzt: „Vor allem meine Füße und Knie haben ziemlich gelitten durch das viele Joggen. Ich habe die Hilfeschreie meiner wund gelaufenen Füße oder kaputten Knie aber immer ignoriert. Die Sucht war viel lauter in meinem Kopf.”

Stundenlang ist Lara durch die Stadt gelaufen, mit dem Fahrrad in die 12 Kilometer entfernte Uni gefahren, hat unzählige Übungen im Fitnessstudio gemacht. Ein Ziel hatte sie eigentlich nie. Sie war getrieben von einem inneren Zwang. Dem Wunsch, gesund zu leben. Fit zu werden. Etwas zu leisten. Der Sport gab ihr Bestätigung. Darin war sie gut und sie wurde besser. Auch ihre Ernährung war von strikten Regeln bestimmt. Fast Food und Süßigkeiten waren streng verboten. Sie ernährte sich hauptsächlich von Obst und Gemüse, dazu Eiweißshakes zum Muskelaufbau. In ihrem Tagebuch findet sie einen Eintrag, in dem sie festgehalten hat, wie ihr Tagesablauf zu den „besten Zeiten” ihrer Sucht ausgesehen hat, kurz vor ihrem Zusammenbruch. Hinweis: Die folgenden Inhalte können Betroffene triggern.

Lara rekonstruiert ihren Tagesablauf und erzählt, wie viel Sport sie am Ende tatsächlich gemacht hat.

Sie blättert langsam weiter. Ein Foto von ihr kommt zum Vorschein. Ihre hellbraunen langen Haare hängen dünn und stumpf über ihren Schultern. Die Beine sehen aus wie Zahnstocher, die Sehnen, Bänder und Muskeln zeichnen sich überall deutlich ab. Ihr ganzer Körper ist übersät mit blauen Flecken und Schürfwunden. Sie ist oft gestürzt, weil ihre Bänder zu instabil durch den übermäßigen Sport waren. Auf dem Foto geht Laras Blick geradeaus in die Kamera. Er ist leer, als würde sie mit offenen Augen schlafen. Sie sieht müde und ausgelaugt aus. Ihre Schuhe sind an der Seite aufgeschnitten. „Ich musste die Schuhe aufschneiden, damit sie nicht mehr so sehr drücken beim Laufen. Meine Füße waren ständig geschwollen und ich hatte viele Blasen. So war es dann einigermaßen erträglich”, erzählt die 24-Jährige. Wieder schießen ihr Tränen in die Augen. Sie sitzt zusammengekauert auf dem Bett und wirkt unglaublich hilflos. Ihr Blick ist immer noch ausdruckslos und geht ins Leere. Aber sie sieht besser aus. „Mein Körper hat sich von den Strapazen erholt, aber mein Kopf hat sich mit der neuen Situation noch nicht ganz abgefunden”, sagt Lara.

Verlaufen auf der Suche nach Identität

Warum genau Sport süchtig machen kann, ist wissenschaftlich noch nicht bewiesen. Einige Wissenschaftler reden von einer erhöhten Produktion von Glückshormonen bei körperlicher Anstrengung, andere erklären sich die Sucht durch den Wunsch, sich selbst etwas zu beweisen. Weitere Faktoren könnten Probleme im Beruf oder ein Wechsel des Umfelds sein. Generell ist die Sportsucht ein komplexes bio-psychosoziales Phänomen, was vielfältige Ursachen haben kann. Das Symptom ist aber immer das gleiche: Sport treiben bis zum Umfallen. Betroffene kennen kein Erbarmen mit sich selbst und rennen buchstäblich in ihr Verderben, denn entgegen aller Empfehlungen von Familie, Freunden oder Ärzten machen sie bis zur vollständigen Erschöpfung weiter. Wie in jeder Sucht treten Entzugserscheinungen auf, wenn die Bewegung nicht ausgeführt werden kann. Von Unwohlsein, innerer Unruhe und Depressionen über psychosomatische Beschwerden wie Magenprobleme bis hin zum sozialen Verfall, also Kontaktstörungen zu Familie und Freunden. Die Sucht bestimmt das ganze Leben.

Lara besucht die Stelle, an der sie damals gestürzt ist.

Auch bei Lara entwickelte sich die Sucht in einer Phase des Umbruchs. Sie hatte ihr Abitur gemacht und ihr Jura-Studium überforderte sie. Neue Menschen, neue Stadt, neue Anforderungen. In der Schule fühlte sie sich immer behütet, aber in der Uni war sie auf sich gestellt. Sie war in der Schule immer sehr gut gewesen, in der Uni hagelte es auf einmal schlechte Noten, sie fiel durch Prüfungen durch und hatte das Gefühl, ihr Leben würde aus den Fugen geraten. Um sich von dem Lernstress abzulenken, fing sie an joggen zu gehen. Vorher hatte sie nie viel Sport gemacht. Aber sie fand Gefallen daran und wurde immer besser. Lara vergleicht ihre Sucht mit Alkoholabhängigkeit: „Ein Alkoholiker fängt auch nicht mit einer Flasche Schnaps zum Frühstück an. Erst trinkt er jeden Abend ein Bier, dann werden es zwei und dann wird aus dem Bier ein Schnaps. Und so geht es immer weiter. Ich habe mit zwei Kilometern laufen angefangen, daraus wurden am Ende dann auch mal 30.”

Tiefer Fall in die richtige Richtung

„Ich musste im wahrsten Sinne des Wortes ziemlich tief fallen, um mich dann in die richtige Richtung wieder aufzurappeln”, erzählt Lara mit einem kleinen Lächeln im Gesicht. Das erste Mal strahlen ihre Augen etwas Warmes, Glückliches aus. Der kleine Scherz entschärft die angespannte Situation in dem kleinen Zimmer etwas. Denn Lara ist gefallen. Mitte des Jahres 2015 kam es zum körperlichen Zusammenbruch bei einer morgendlichen Joggingrunde. Lara erinnert sich daran, als wäre es erst gestern gewesen:

„Es war noch ganz früh am Morgen, 5:30 Uhr ungefähr. Schon nach dem Aufstehen merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Mehrfach musste ich mich wieder auf mein Bett setzen, bis ich endlich meine Sporthose anziehen konnte, weil mein Kreislauf versagte. Nach ungefähr fünf gelaufenen Kilometern fing mein Herz plötzlich an zu rasen. Dann stolperte ich. Und dann hörte ich nur noch Stimmen von weit weg, konnte aber nichts mehr sehen und mein Körper schmerzte, als hätte er mich mit jeder Faser angeschrien, angefleht, endlich aufzuhören. Ein Mann kam mit seinem Hund zu mir gerannt und fragte, ob alles ok sei. Ich konnte nicht antworten. Es drehte sich alles.”

Dieser Mann rief schließlich den Rettungsdienst und Lara wurde in ein Krankenhaus gebracht. Ihr Körper brauchte einige Zeit, sich von den Strapazen zu erholen. Für Lara war diese Zwangspause aber der erste Schritt in die richtige Richtung. Ihr wurde klar, dass sie keine Kontrolle mehr über ihr Leben hatte und Hilfe brauchte. „Am Anfang ging es mir richtig schlecht. Ich war ja auf Entzug”, erzählt die Studentin von der Zeit im Krankenhaus. Sie blickt dabei starr geradeaus an die Wand. In ihren Augen spiegelt sich purer Ehrgeiz wieder. Kurzzeitig erfüllt Stille den Raum, bis Lara die richtigen Worte gefunden hat. „Ich musste und wollte die Kraft, die ich in den Sport gesteckt habe, jetzt gegen die Sucht aufbringen.” Und das tat sie. Mit einem eisernen Entzug hörte sie von heute auf morgen komplett mit jeder Art von Sport auf. Anfangs litt Lara durch die mangelnde Bewegung unter Angstzuständen, Nervosität, Unruhe. Wochenlang musste sie diese Gefühle aushalten. Geholfen hat ihr dabei vor allem eine ambulante Psychotherapie, in der sie viel über die Gründe ihrer Sucht herausgefunden hat. Vor allem wusste sie nicht, wer sie eigentlich war. „Ich dachte, ich könnte gar nichts richtig machen und brauchte irgendwo Bestätigung. Im Sport war ich besser als viele anderen – damit konnte selbst ich etwas erreichen.”

Die Sucht nach Bestätigung

Lara brauchte viel Zeit, um sich selbst so akzeptieren zu können, wie sie ist.

Die Suche nach der eigenen Identität stellt Menschen oft vor große Schwierigkeiten. Wer bin ich, was bin ich, was kann ich? Besonders sehr ehrgeizige Menschen neigen dann schnell dazu, verbissen nach Möglichkeiten zu suchen, sich selbst zu zeigen, dass sie auch gut in etwas sein können. Und oft wollen sie es auch ihrem Umfeld beweisen. Lara blättert noch mal in ihrem roten Tagebuch. Sie überfliegt die verschiedenen Einträge, bis sie schließlich den richtigen findet. Er ist von Anfang Februar 2014, kurz, nachdem sie ihr Jura-Studium angefangen hatte.

„Schon wieder durchgefallen. Ich verstehe kaum etwas, was die Profs in den Vorlesungen erzählen. Meinen Kommilitonen scheint es irgendwie besser zu gehen. Was die wohl von mir denken? Wahrscheinlich dass ich dumm wie Toastbrot bin. Und meine Eltern werden ausrasten, wenn sie erfahren, dass ich schon durch die zweite Klausur durchgefallen bin. Ich muss doch auch mal irgendetwas in meinem Leben hinkriegen. Meine Eltern waren so stolz, als ich mein Abitur-Zeugnis bekommen habe, aber jetzt enttäusche ich sie nur noch und bin einfach zu dumm, auch nur eine einzige Klausur zu bestehen. Was mache ich denn jetzt?” 

Zu dem Zeitpunkt bahnte sich ihre Sucht schon an und je mehr Stress sie sich selbst machte, desto intensiver und umfangreicher gestaltete Lara ihr Training. Es hat lange gedauert, bis sie verstanden hat, dass ihre Familie und Freunde sie auch lieben, wenn sie nicht die Beste in allem ist.

Ein lehrreicher Lebensabschnitt geht zu Ende

Ungefähr ein Jahr lang konzentrierte sich Lara nach dem Zusammenbruch ganz auf sich. Sie brach ihr Studium in Bochum endgültig ab, zog vorübergehend wieder bei ihren Eltern ein, machte Therapien und lernte sich selbst ganz neu kennen. Ihr Körper erholte sich. Dann war sie bereit für eine neue Aufgabe. Sie hatte einen Studienplatz in Marburg für Philosophie bekommen und begann damit ein neues Leben. Sie zog in eine WG nach Marburg und ließ ihr altes Leben in Bochum zurück. In dem neuen Studium fühlt sie sich deutlich wohler als im alten. Das Lernen macht ihr Spaß und sie hat viele neue Freunde gefunden. Sie hat jetzt wieder Freude am Leben und akzeptiert sich, wie sie ist. Und wenn sie mal eine Klausur nicht besteht, weiß sie: auch das ist kein Weltuntergang. Von ihrem früheren Leben hat sie nur noch ihr Tagebuch bei sich. „Es ist immerhin ein großer Teil meines Lebens. Die Einträge darin erinnern mich, wenn es mir schlecht geht, wie stark ich eigentlich bin.” Man merkt ihr an, dass ihre Vergangenheit tiefe Spuren hinterlassen hat und sie noch sehr beschäftigt. Aber Lara weiß mittlerweile, was sie will. Stundenlang Sport treiben gehört nicht mehr dazu.

*Name von der Redaktion geändert.

Beitragsbilder: Leonie Rottmann

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