Graffiti – Ein Tag aus dem Leben eines Sprayers

Stefan* führt zwei Leben. In der Uni ist er der Musterstudent, in der Freizeit ein Sprayer. pflichtlektüre online hat den Dortmunder einen Tag lang begleitet.

Der weiße Tisch ist ganz voll gepackt. Vier Schachteln Zigaretten, zwei Aschenbecher, es riecht nach kaltem Rauch. Eine Flasche Wein, zwei Sektgläser und eine Tüte Chips. Daneben liegt ein Buch. „Vater unser“, ein Thriller von Juliane Hoffmann. 50 Euro, ein Glas Nutella und ein Zauberwürfel. Zwei Flaschen Farbe. „Boah, ist mir schlecht.“, sagt Stefan*. In schwarzer Jogginghose und Kapuzenpulli sitzt er auf der schwarzen Ledercouch. „PSP 95“ steht in weiß auf dem Pullover. Stefan ist nicht besonders groß, dafür aber besonders dünn. Er wirkt geradezu zerbrechlich. Sein schmales Gesicht ist bleich, die braunen Augen sind müde. Stefan fährt sich durch die kurzen schwarzen Haare. „Ich weiß gar nicht, wann wir gestern zuhause waren.“ Wir – damit meint er sich und eine Freundin. Sie liegt noch im Bett. Es ist Montag. Eigentlich müsste sie jetzt in der Schule sitzen. Um 12 Uhr ruft Stefan einen Kumpel an. „Ich mach mich gleich auf den Weg“, sagt er und fängt an seine Stofftaschen zu packen. 15 Dosen Farbe, 2 Farbrollen und jede Menge Caps – Stefan ist ein Sprayer. Den Bolzenschneider braucht er heute nicht. Heute malt er legal. „Malen“, so heißt das in der Szene. „Ich benutze nur Standard oder Fat Caps“, erzählt Stefan. Um besonders dünne Striche zu ziehen benutzt man Skinnies.

PSP 95 ist der Name der Crew. Die Abkürzung hat mehrere Bedeutungen. Foto: Brinja Bormann

PSP 95 ist der Name der Crew. Die Abkürzung hat mehrere Bedeutungen. Foto: Brinja Bormann

„Ich führe zwei Leben.“

In dem schwarzen Regal stehen viele Bücher. Mill – Der Utilitarismus, Kunstepochen – Frühchristliche und byzantische Kunst. Stefan studiert im vierten Semester Philosophie und Kunstgeschichte. Er ist ein guter Student, schreibt Einsen.
Momo von Michael Ende. Direkt daneben: Paris, Stadt der Lichter.
„Ich führe zwei Leben“, erklärt der 22-Jährige. „Hier in Deutschland benehme ich mich, aber in Paris lebe ich nur.“ In einem Urlaub hat Stefan die Crew in Paris kennen gelernt. Seitdem ist sie „Familie“. Stefan ist mittlerweile vorbestraft wegen Drogenmissbrauch. In Paris saß er sogar schon eine Nacht im Gefängnis, weil er beim Sprühen erwischt wurde. „Die hatten keine Lust auf den Papierkram, also haben die mich laufen gelassen.“ Stefan pustet in die Caps und testet, ob sie noch brauchbar sind. Seine Mutter weiß nichts von alldem. Jeder führt sein eigenes Leben. Um seine Wohnung zu finanzieren hat Stefan mehrere Nebenjobs. Im Hotel sitzt er an der Rezeption oder hilft in der Küche. Hier ist er der liebe Junge von nebenan. Sein Lippenpiercing hat er dafür extra raus genommen. Nur eine kleine Narbe erinnert an den Ring in der Unterlippe.
Das erste Mal hat Stefan in der Grundschule gemalt. „Das war ’98. Ich hab gekritzelt und wurde erwischt. Mein Papa wollte mir die Finger abhacken.“

Kunst oder Vandalismus?

Die PSP Crew hat sich mittlerweile in ganz Europa ausgebreitet. Frankreich, Deutschland und Portugal sind nur ein paar Länder. Für Stefan ist Graffiti keine Kunst. „Ich hab einfach Lust Sachen kaputt zu machen. Das ist reiner Vandalismus.“ Als Kunst bezeichnet er das, was in Galerien hängt. Trotzdem will er, dass seine Bilder gut aussehen. An der Wand hängen Bilder von Freunden. Trash Art. Man nimmt was man findet und klebt es einfach auf eine Leinwand oder ein Blatt Papier.
Neben der Couch stehen zwei E-Gitarren. Eine braune Höfner und eine hellblaue Ibanez. Früher hat Stefan in einer Punkband gespielt. Jetzt dröhnt französischer Rap von ALKPOTE aus den PC-Boxen.
Stefan packt noch eine Tüte Chips und ein Paket roten Tee in die Taschen, dann kann es losgehen. Neben dem Türspion klebt ein Post-it: Wer bist du?
Stefan meint zu wissen, wer er ist. „Ich bin ein großartiger Mensch. Ich hab mich sehr zu einem positiven Menschen entwickelt. Krieg alles auf die Kette, hab keine Probleme.“ Was für andere selbstverständlich scheint, macht Stefan stolz. Dabei bleibt er kriminell. Im Hausflur schwebt eine Cannabis Duftwolke. „Das kommt von den Nachbarn.“
Mit dem Bus fährt Stefan in die Stadt, von dort aus weiter mit der U 43. Lippestraße, hier geht’s raus.

Aus Stefan wird HOAX

Der Parkplatz vom ehemaligen Soundgarden ist fast leer. Die vier, fünf Autos fallen kaum auf, weil der Schotterplatz so riesig ist. Nur wenige Flächen sind geteert. Große Regenpfützen haben sich gebildet. Sie müssen noch von den Vortagen sein. Es ist bewölkt und der Wind streift das Gesicht. Ein kalter Frühlingstag. Links geht es zur Diskothek. Stefan geht rechts an einer Häuserwand entlang, die einer Fabrikwand ähnelt. Sie ist komplett beschmiert mit Schriftzügen, Figuren und simplen Schmierereien. TURF und BRES warten schon. Die Künstlernamen haben sie sich selbst gegeben. Ab jetzt ist Stefan HOAX.

Wenn Stefan malen geht, ist er HOAX. Foto: Brinja Bormann

Wenn Stefan malen geht, ist er HOAX. Foto: Brinja Bormann

Immer noch nicht nüchtern begrüßt er seine Kollegen. Sie quatschen über Mädels und Alkohol, prahlen mit ihren Triumphen. BRES greift in die Tasche und holt ein kleines Plastiktütchen hervor. Das grüne Kraut verteilt er auf einem Blättchen, feuchtet es an und dreht sich einen Joint. In seinen Jeans und seinem schwarzem Pullover wirkt der 31-Jährige jung. Die langen Haare sind unter einer engen Mütze versteckt. Die Jungs stellen in Gedanken das Konzept auf. Die Wand, auf die sie malen wollen, ist bereits bunt. Ein circa drei Mal drei Meter großer chromfarbener Schriftzug soll umgestaltet werden. Hier raus soll der Name der Crew, PSP, entstehen. Die Buchstaben der Pieces der einzelnen Sprayer sollen durch ähnliche Füllmuster, den Fill Ins, ineinander übergehen. So ergeben die einzelnen Teile ein Ganzes. In der rechten Hand hält BRES den Joint, in der linken die Sprühdose. Seine Hand schützt er durch einen Handschuh vor der aggressiven Flüssigkeit. Mit einem hellen gelb zieht er seinen Character vor. Bis auf ein paar Striche und Kreise ist nichts zu erkennen. Dass hier später Figuren auf der Wand sein sollen, scheint utopisch. Darüber skizziert BRES die Buchstaben PSP. „PSP kann für vieles stehen.“, erklärt Stefan. „Die Hauptbedeutung ist Pilon sur Pilon, das heißt ein Joint nach dem anderen. Es kann aber auch für Police sous Pression stehen, was so viel wie Polizei unter Druck bedeutet.“
In den Büschen vor der Wand liegt viel Gerümpel. Matratzen, Bretter und auch ein alter brauner TV Schrank. BRES benutzt ihn als Podest um höher sprühen zu können.
Der Joint wird weiter gereicht. Auch Stefan zieht dran. Dann zieht er am linken Rand mit grüner Farbe die Buchstaben vor. AKZHO. „Das ist Verlan, Ghetto Sprache aus Frankreich.“ Die Silben werden vertauscht und aus X werden K und Z. So wird HOAX zu AKZHO. Über den Schriftzug setzt TURF seine Unterschrift. Die Buchstaben werden in Beige grundiert. Dafür wird die Farbe aus den Eimern benutzt, die die Jungs in ihren Rücksäcken hatten.
Der Hintergrund soll in einem hellen Pistaziengrün leuchten. Der hochkant gestellte TV Schrank ist sehr ziemlich wackelig. Er droht zu kippen oder gar zu brechen. „Erfinderisch muss man sein!“ BRES fixiert die zweite Farbrolle an einem circa fünf Meter langen Regenrohr.

Jetzt geht es an die Feinheiten

Jogginghose in den Socken und Turnschuhe - nicht das übliche Bild eines Musterstudenten. Foto: Brinja Bormann

Jogginghose in den Socken und Turnschuhe - nicht das übliche Bild eines Musterstudenten. Foto: Brinja Bormann

Zwei Stunden später steht das grobe Gerüst. Jetzt geht’s an die Fill Ins. Graue Punkte und rote Farbflecke zieren das innere der Schriftzüge von TURF und Stefan. Von weitem ertönen die Sirenen eines Krankenwagens. Das bekommt hier wohl keiner mit. So fixiert sind die Jungs auf ihr Werk.
Ein älterer Mann mit grauen langen Haaren fährt mit einem klapprigen Fahrrad über den Platz. „Macht ihr die Welt schöner?“, ruft er, als er vorbeiradelt.
„Pffffff“, minutenlang nur „Pffffff“. Die Sonne blinzelt durch die Wolken. Stefan bewegt seinen Kopf beim Sprühen hin und her. Er wirkt wie ein kritischer Künstler. Nach dem Füllmuster werden die Outlines als Konturen gezogen. Die Jungs reden wenig. Sie sind zu konzentriert.

Graffiti als Kunst

Es wird immer kälter. Um sieben Uhr werden die letzten Highlights gesetzt. Heute hat Stefan in Ruhe gemalt, und auch wenn er es nicht zugibt war Leidenschaft dabei. Noch schnell ein paar Fotos, dann werden die Sachen zusammen gepackt. Die Eimer zurück in die Rucksäcke, die Dosen in die Stofftaschen. Nur die Farbflecken an den Fingern und den Hosen können die drei verraten.

Aus HOAX wird wieder Stefan

Auf der Heimfahrt sitzt Stefan in der U-Bahn. Er sieht noch viel niedergeschlagener aus, als am Vormittag. Die Aktion hat eindeutig an seinen Kräften gezerrt. Er hat Hunger. An Schlafen denkt er aber nicht, denn er hat noch eine Verabredung mit einem Mädchen.
Im Hausflur wieder der Grasgeruch. Als Stefan die Wohnungstür aufschließt, strömt ein Schwall kalter Rauch entgegen. Das Mädchen von heute Morgen ist weg. Stefan geht duschen und entfernt die Farbe an den Fingern mit Pinselreiniger. Der beißende Geruch wechselt in angenehmen Duft vom Aftershave. In Jeans und Lederjacke zieht er die Wohnungstür hinter sich zu.

* Name von der Redaktion geändert

1 Comment

  • alex sagt:

    Gefällt mir sehr gut, schön geschrieben. Außerdem ein interessanter Blickwinkel in eine Szene, die vielen nicht zugänglich ist. Allerdings muss man anmerken: Es geht nicht für alle, mMn auch nicht für die Mehrheit um Vandalismus.

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