Ihr bekommt von der Kulturhauptstadt nur geschwollene Reden und Feuerwerk mit? Wir erklären, wie das Ruhrgebiet zum Titel kam, zeigen Euch drei spannende Projekte – und nähern uns dem Hype satirisch.
Projekt 1: In der Burka durch die Dortmunder City
Eine Frau mit Kopftuch regt im Ruhrgebiet keinen auf. Aber wie reagieren die Pottbewohner, wenn ihnen eine komplett verschleierte Studentin gegenübersteht? Hört die Toleranz bei der Burka auf? „Das Kopftuch ist zwar immer noch ein Thema, aber Burkas haben hier eine ganz andere Konfrontationsfläche,“ sagt Beate Schmuck vom Institut für Kunst und materielle Kultur in Dortmund. Sie organisiert für Ruhr.2010 ein Projekt, für das Studentinnen in der Öffentlichkeit Burkas tragen und die Reaktionen der Passanten dokumentieren. Die Dozentin findet, dass man im Kulturhauptstadtjahr nicht nur auf die positiven Seiten des Ruhrgebiets schauen darf: „Man muss auch Dinge wie Fremdenfeindlichkeit und Unverständnis aufzeigen.“
Projektteilnehmerin Karin Pietruschka erzählt: „Am Anfang haben mir schon etwas die Beine gezittert und ich hatte Angst, was passieren würde. Aber ich habe mich auch geschützt gefühlt, weil man ja mein Gesicht nicht erkennen konnte.“ Ihr Spaziergang mit der Burka sei gut verlaufen, sie sei nur einmal von einem Mann gefragt worden, ob er ein Foto von ihr machen dürfe. Bei den anderen Studentinnen waren die Reaktionen zum Teil heftiger: Kommentare wie „So was sollte verboten werden!“ oder der Rauswurf aus Geschäften waren die Folge. „Auf dem Weihnachtsmarkt war sogar ein Ehepaar so sauer, dass sie sagten, ihr ganzer Tag sei nun verdorben“, berichtet Initiatorin Beate Schmuck. Die Burka wirke auch deswegen so fremd, sagt sie, weil man das Gesicht der Trägerin nicht sehen kann.
„Ich habe mich von Gesprächen ausgeschlossen gefühlt“, sagt Studentin Anna Waschkau. Sie habe durch den Schleier so schlecht sehen können, dass sie kaum bemerkt habe, was um sie herum passiert sei. Die Kommentare der Passanten oder sogar Fotos von den Begegnungen wollen die Studentinnen auf weiße Burkas drucken lassen – in denen wollen sie im Juli das große Ruhr.2010-Frühstück auf der A40 besuchen.
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Projekt 2: Bei „2-3 Straßen“ bist du selbst das Kunstwerk
Wie fühlt man sich als Teil eines Kunstobjektes? Für Maike Plock, eine 26-jährige Psychologiestudentin, fühlt es sich an wie zu Hause. Im Flur stapeln sich die Umzugskartons, Handwerker geben sich die Klinke in die Hand. Eine normale Studentenbude – und gleichzeitig eine Installation. „2-3 Straßen“ nennt sich das Projekt des Künstlers Jochen Gerz.
In mehreren Städten des Ruhrgebiets hat er die Stadtverwaltung gebeten, einige Wohnungen kostenfrei zur Verfügung zu stellen. Nach und nach ziehen Freiwillige ein, die zwar keine Miete bezahlen, aber über ihr Leben Tagebuch führen sollen. „Ich war vor allem extrem gespannt auf die anderen Mieter und darauf, wie sich die Dynamik entwickelt,“ sagt Maike Plock, die vorher in Bochum gelebt hat. Sie zog schon Mitte Dezember ein, die anderen Mieter kommen nach. Die meisten von ihnen sind jung, Studenten oder gerade fertig gewordene Absolventen. Insgesamt sollen 26 Projektteilnehmer in die Dortmunder Nordstadt ziehen, direkt an den Borsigplatz.
So wie der alte Mann im Erdgeschoss, der scheinbar immer an seinem Fenster sitzt und raucht. Dass die Wohnungen der meisten Teilnehmer zu einem offenen Hof hinausgehen, verstärkt den Effekt: „Der Platz ist wie eine Bühne, alle beobachten, was da passiert.“ Da er eigentlich aus Karlsruhe kommt, war es für Matthias ein großer Schritt, an dem Projekt teilzunehmen. Aber das urbane Leben im Ruhrpott gefällt dem 19-Jährigen. Er mag das Chaotische. „Hier muss nicht immer alles perfekt sein.“ Die Ruhr.2010 hält Lempart für eine gute Chance, das Ruhrgebiet näher zusammenrücken zu lassen. Obwohl die Städte so nah beieinander seien, gebe es viel Konkurrenz und Revierdenken. Das mache sich auch bei der Kultur bemerkbar: „Hier bleibt irgendwie alles innerhalb der Stadtmauern: die Kulturen, die Geschichte und die Kunst.“ Am Ende des Jahres sollen die Tagebucheinträge der Teilnehmer zu einem Buch zusammengefügt werden. Dann wird offenbar, ob die neuen Mieter die Straße verändert haben. Für Matthias Lempart geht es noch um viel mehr – nämlich um ihn selbst. „Mich interessiert natürlich auch, wie das Projekt mich verändert!“
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Projekt 3: Der Mann mit den Tauben
Kohle und Stahl, Wasserdampf und schmutziger Qualm – das war der Pott früher. Heute ist er Hauptstadt. Kulturhauptstadt. Doch was bedeutet das für die Menschen im Ruhrgebiet und was passiert da, im Kulturhauptstadtjahr? Tauben werden fliegen – und die große weite Welt mit, nun ja, Castrop-Rauxel verbinden. Das zumindest ist der Plan eines Schmuckdesigners aus Castrop-Rauxel. Matthias Grosches Version für Ruhr.2010: 20 Künstler aus dem Ruhrgebiet sollen mit zehn Künstlern aus Polen, den Niederlanden und Österreich vernetzt werden – über Brieftauben.
Funktionieren soll das so: Die Künstler fotografieren ihre Werke, die dann auf Speicherchips gesichert werden. Die Tauben transportieren die gespeicherten Kunstwerke dann in kleinen Rucksäcken – eine pottspezifische Form der Vernetzung, wie Schmuckdesigner Grosche versichert: „Tauben gehören ganz stark zum Ruhrgebiet.“ Taubenzucht, ehemals ein Hobby der Bergarbeiter, ist im Ruhrgebiet immer noch weit verbreitet. Nicht nur Maler und Bildhauer konnte Grosche für sein Projekt gewinnen, auch Köche, Comiczeichner und Musiker machen mit. Grosche stellt sich als Produkt vor allem Arbeiten aus der Zeit vor und nach der Kohleförderung vor. „Im Fluge vergangen…“ heißt sein Projekt. „Schließlich ist der Zeitraum der Kohle nur ein Wimpernschlag in der Geschichte des Ruhrgebiets.“
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