Hat das Ruhrgebiet den Titel „Kulturhauptstadt“ verdient?

Contra: Ruhrgebiet heißt Leid-Kultur
Von Daniel Gehrmann

Wie viele Nieten gibt es im Ruhrgebiet? Es ist eine doppeldeutige Frage. Die Kulturhauptstadt wird vielleicht einige Nieten, die man bisher nicht kannte, ins Rampenlicht befördern. Mal im Ernst: Wie erbärmlich muss eine Region sein, wenn sie ausgediente Blechhaufen zu Kultur erklärt? Seit der Kohle- und Stahlkrise ist hier buchstäblich der Ofen aus – und wurde zum kulturellen Erbe erklärt. Mit welchem Recht? Einen Rheinländer, der mit Domstadt und Düsseldorf groß geworden ist, kann das nicht vom Hocker reißen. Jahrhunderthalle hin, Unionsbrauerei her.

Alles Zeche oder was? Darüber, wie wenig Kultur im Ruhrgebiet steckt, lässt sich mancher

Alles Zeche oder was? Wieviel Kultur im Ruhrgebiet steckt, ist die Frage. Ein Rheinländer zählt "Blechhaufen" nicht dazu...

Natürlich kann man im Leben nicht alles haben. Man muss sich entscheiden. Köln oder Düsseldorf, BVB oder Schalke. Für den Rheinländer ist es eine Herzenssache, für Kölsch oder für Alt, für die Heimatstadt Bölls oder für  die Heinrich Heines zu sein. Wer hat schon Lust, zwischen Dortmund und Gelsenkirchen zu wählen? Ja, gewiss: Auch das Ruhrgebiet hat seine Domstadt. Essen ist ein kulturelles Highlight, mit Grillo- und Aalto-Theater, Dom und Synagoge, Villa Hügel und Folkwang-Museum. Für eine einzelne Stadt mag das viel sein; für eine Region ist es zu wenig. Essen ist nur ein Leuchtturm auf dem kulturellen Flachland.

Und wie steht es mit dem Humor? Auch wenn Westfalen tapfer das Gegenteil behaupten: Echten Humor haben sie nicht. Das Verhältnis zwischen rheinischem zu westfälischem Humor ist etwa so wie das von Bohnenkaffee zu Kaffeeersatzpulver. Selbst Düsseldorf hat mehr Humor als das ganze Ruhrgebiet zusammen. Dass ein Wahlkölner einmal so gut von Düsseldorf sprechen würde, ist überraschend. Dazu musste er erst das Ruhrgebiet kennenlernen. Aber dafür hätte es nicht unbedingt zur „Kulturhauptstadt“ erklärt werden müssen, nur um Düsseldorf im Vergleich ein wenig aufzuwerten.

Pro: Das Ruhrgebiet steht für Lust-Kultur
von pflichtlektüre-Chefredakteurin Vanessa Giese

Das Ruhrgebiet ist eine Region der Gegensätze: Auf der einen Seite junge Studenten an insgesamt 19 Hochschulen –  auf der anderen das Bild der alten, kohleverschmutzten Malocher. Erholsame Wälder erstrecken sich nahe monströsen Industrieanlagen. Vom ehrwürdigen Folkwang-Museum ist es nur ein Fußweg zum anarchischen Unperfekthaus.

Die Gegensätze des Ruhrgebiets sind Ergebnis eines wirtschaftlichen Wandels enormen Ausmaßes. Auf Kohlegruben entsteht Kreativwirtschaft. Die Veränderung produziert Ideen, bringt Innovationen hervor – und schafft Kultur. Unsere Industriekultur gäbe es nicht ohne die stillgelegten Hochöfen. Unsere Alltagskultur existierte nicht ohne unsere Arbeitertradition.

Besonders die Alltagskultur  mit ihren Trinkhallen und Zechenhäusern wird oft übersehen: Das Allgegenwärtige ist für viele unsichtbar, weil sie es nicht als etwas Besonderes empfinden. Dem unsensiblen Rheinländer mit seinem dicken Dom ist deshalb nicht immer klar, warum das Ruhrgebiet Kulturhauptstadt ist.
Die Ruhrgebietler, besonders wir Studenten, sind ihm ohnehin voraus. Denn wir erleben nicht nur den Wandel – wir machen ihn. Wir erschaffen die Veränderung – und die Veränderung erschafft uns. Das ist das eigentlich Großartige.

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