Frei vom Zwang

Ihr kleines Mädchen schläft friedlich. Sie wiegt das winzige Bündel in ihren Armen, während sie die letzte Stufe zum Parkhausdach erklimmt. Nun steht sie im Freien. Sie läuft auf das Geländer zu, das die Besucher vor einem Sturz bewahren soll. Noch hält sie das Kind fest, während sie einen Blick in die Tiefe wagt. Dann hebt sie ihre Tochter langsam über den Rand des Geländers. Und lässt sie fallen.

Ina Weber* leidet an Zwangsgedanken. „Sie sind brutal und aggressiv, schießen einem plötzlich in den Kopf. Man kann sie nicht steuern, ist machtlos gegen sie,“ erklärt die 33-Jährige. Aggressive Gedanken, die sich gegen das Liebste richten, was sie hat: Ihre kleine Tochter.

„Im Oktober wird meine Kleine Zwei,“ erzählt Ina Weber stolz, während sie einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse nimmt. Ihr dunkelblondes Haar hat sie zu einem lockeren Zopf gebunden. Mit ruhiger Stimme erzählt sie, dass ihre Tochter ein absolutes Wunschkind sei.  Die 33-Jährige ist Erzieherin, sie liebt Kinder. „Meine Schwangerschaft verlief problemlos, ich war total glücklich.“

Symbolbild zu einer Zwangsstoerung


„Was, wenn sie dir einfach runter fällt?“

Doch als die kleine Melanie endlich auf der Welt ist, kann sich ihre Mutter nicht über den ersehnten Nachwuchs freuen: Schon am dritten Tag nach der Geburt entwickelt sie eine postportale Depression. Ina Weber ist niedergeschlagen und weinerlich. „Jetzt war mein heiß ersehntes Wunschkind da – und die Freude blieb einfach aus. Das war total irritierend für mich.“

Plötzlich schießt ihr zum ersten Mal ein Zwangsgedanke in den Kopf. „Ich hielt meine Tochter auf dem Arm und dachte: Was, wenn sie dir jetzt einfach runter fällt?“ Ina Weber fängt an, zu zittern. Angst steigt in ihr hoch, sie erleidet eine Panikattacke. Und erschrickt vor sich selbst. „Ich habe mich nur gefragt: Oh Gott, was denkst du denn da?!“

Die Angst, verrückt zu werden

Doch ab diesem Moment lässt sie der Gedanke nicht mehr los: Was, wenn sie ihr Kind die Treppe herunter fallen lässt? Oder aus dem Fenster? „Immer wieder dachte ich: Lass sie fallen, lass sie doch einfach fallen. Es waren bildhafte Szenen, die ich einfach nicht beiseite schieben konnte.“ Die Gedanken drängen sich immer wieder auf, ohne dass die 33-Jährige sie steuern kann. Ina Weber ist ratlos. „Ich will das doch gar nicht denken – warum tue ich es dann? Das habe ich mich immer wieder gefragt.“

EXPERTEN-INTERVIEW MIT DR. HILLEBRAND

 

Doktor Hillebrand in seinem Büro.Dr. Thomas Hillebrand ist Psychotherapeut und Vorstandsmitgied der Deutschen Gesellschaft für Zwangserkrankungen (DGZ). Er erklärt, warum Betroffene an Zwangsgedanken leiden und wie man diese therapiert.  Foto: Claudia Wiggenbröker

 

In den ersten zwei Wochen nach der Geburt hat ihr Mann Urlaub, sie kümmern sich gemeinsam um das Kind. „Dann musste er wieder arbeiten – und ich war allein.“ Plötzlich wurden die Zwangsgedanken schlimmer – und häufiger. „ Ich dachte, ich werde verrückt. Und dass es nicht sein kann, dass ich denke, ich lasse mein Kind fallen. Ich wusste nicht, was mit mir los ist.“

Die Angst, sie könnte ihrem Kind wirklich etwas antun, ist zu groß. „In meiner Verzweiflung habe ich dann die Kleine genommen und bin zur psychiatrischen Ambulanz gefahren.“

Ina Weber wies sich selbst in die Psychiatrie ein

Dort erklärt man ihr, dass sie an einer Zwangserkrankung leidet. Und dass die Betroffenen die aggressiven Gedanken, die sie haben, niemals wirklich ausführen. Das beruhigt Ina Weber aber wenig. „Ich wollte nicht zurück nach Hause. Dort alleine zu sein, machte mir Angst.“ Zudem leidet sie nach wie vor an der Wochenbett-Depression. „Deshalb wurde mir ein stationärer Platz angeboten. Und ich habe zugesagt. Ich war so in Panik, dass ich mich selbst eingewiesen habe.“

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Zwei Wochen später erhält sie ihren Platz in der Klinik. Doch sie bemerkt, dass ihr der Aufenthalt nicht wirklich hilft. „Ich war zwar beruhigt, nicht allein Zuhause zu sein. Aber irgendwie kam ich in der Klinik nicht weiter: Es war wie eine Art Aufbewahrung, mehr nicht.“

Sie recherchiert im Internet, findet eine spezielle Einrichtung. Eine Mutter-Kind-Klinik in Herten. Ina Weber ruft dort an, sechs Wochen später wird sie aufgenommen. Solange bleibt sie in der Psychiatrie.

In der Mutter-Kind-Klinik verbringt sie fast drei Monate, gemeinsam mit ihrer Tochter. Hier fühlt sich Ina Weber besser aufgehoben. „Mit der Zeit merkte ich, dass die depressiven Symptome weniger wurden. Das Problem war nur: Die Zwangsgedanken waren nicht weg, als ich entlassen wurde.“

Sich dem Zwang stellen

In der Klinik rät man Ina Weber, ihre Therapie ambulant weiter zu führen. Die 33-Jährige beginnt eine Expositions-Therapie: Sie stellt sich ihrer Angst. Der Betroffene muss so lange in der unangenehmen Situation aushalten, bis die Anspannung nachlässt.  „Weil ich immer dachte, ich könnte meine Tochter fallen lassen, bin ich mit meinem Therapeuten auf ein Parkhaus geklettert. Und dann standen wir da ganz oben. Ich sollte mir vorstellen, dass ich meine Tochter dort im Arm halte. Und dann fallen lasse.“

Durch diese Übungen, die sie immer wieder macht, werden die Zwangsgedanken nach und nach seltener. „Das hat mir wirklich sehr geholfen. Weil ich gemerkt habe: Es passiert nichts. Es wird nie etwas passieren. “

Noch immer geht Ina Weber zwei Mal im Monat zu den Therapiesitzungen. Die Zwangsgedanken sind verschwunden – aber es fällt ihr schwer, ihre Krankheit zu akzeptieren. Eigentlich wollte die 33-Jährige immer zwei Kinder haben. Nun fragt sie sich, ob sie das Risiko eingehen soll, ein weiteres Kind zur Welt zur bringen „Ich könnte jetzt nie wieder so unbefangen schwanger sein. Der jetzige Stand ist, dass es bei einem Kind bleiben wird. Weil ich Angst habe, dass die Zwangsgedanken zurück kommen.“

* Name geändert

Medienprojekt: Frei! (Teichmann)

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