Wir sind Marilyn Monroe!

Foto: Oskar Neubauer

Foto und Teaserbild: Oskar Neubauer

Marilyn Monroe – Weltstar, Filmikone, Sexsymbol. Alle kennen sie, viele lieben sie. Und doch bleibt diese Frau ein Mythos. Man glaubt, alles über sie zu wissen – und weiß doch gar nichts. Denn Marilyn Monroe war eine Meisterin der Inszenierung. Im Rampenlicht Perfektion, im Inneren dagegen oft Verzweiflung und Zerrissenheit. Nicht zuletzt deshalb wurde sie unzählige Male zur Projektionsfläche für Musik und Theater – so auch bei einem bemerkenswerten Kulturprojekt.

Das inklusive Künstlerkollektiv I CAN BE YOUR TRANSLATOR hat sich mit der vor über 50 Jahren verstorbenen Ikone auseinandergesetzt. In ihrem ersten Theatertück „Displace Marilyn Monroe“ inszenieren die zehn Musiker und Schauspieler das Leben des Weltstars neu, das so voller Widersprüchlichkeiten und Brüche ist. Doch auch die Künstler selbst könnten unterschiedlicher nicht sein. Einige sind laut, andere eher leise, wieder andere scheinen erst auf der Bühne wirklich aus sich herauszugehen. Und viele von ihnen haben eine Behinderung. Diese stellen einerseits eine Herausforderung für das Konzept des Musiktheaters dar – andererseits machen sie das Stück aber auch zu etwas ganz Besonderem. So auch bei der vorerst letzten Aufführung im Dortmunder Domicil. Zu sehen, wie unbeschwert sich die siebzehnjährige Anna Reizbikh mit ihrem Rollstuhl über die Bühne bewegt, leidenschaftlich singt und schauspielert und wie der geistig behinderte Christian Schöttelndreier passioniert Trompete spielt sind sowohl für das Künstlerkollektiv, als auch für das Publikum ganz besondere Momente.

„Ich bin Marilyn Monroe“, behaupten die zehn Schauspieler auf der Bühne gleich allesamt zu Beginn ohne mit der Wimper zu zucken. Der Satz wird durch die Marilyn-Monroe-Masken, die von den Darstellern getragen werden, unterstrichen. Moment – sie alle sehen sich als Marilyn Monroe? Egal ob Mann, Frau, groß, klein, blond oder brünett?

Ja. Denn manchmal steckt vielleicht in jedem ein Stück der Ikone. Marilyn Monroe ist mehr als Glanz und Glamour, mehr als Glitzer und Prunk. Auch sie ist manchmal verletzlich, unsicher, voller Selbstzweifel. Angesichts von gesellschaftlichen Trends der Konmformität und der Selbstoptimierung steckt somit eine menschliche Aussage im Fokus des mit viel Live-Musik unterlegten Theaterstückes. Die scheinbare Perfektion einer Marilyn Monroe trifft auf die Realität. Denn Glanz und das Unperfekte werden von dem häufig zerrissenen und unglücklichen blonden Weltstar gleichermaßen verkörpert.

Lis Marie Diehl war zusammen mit Christoph Rodatz für Regie, Dramaturgie und Produktionsleitung des Theaterstückes zuständig. Foto: Merlin Nadj-Torma

Lis Marie Diehl war zusammen mit Christoph Rodatz für Regie, Dramaturgie und Produktionsleitung des Theaterstückes zuständig. Foto: Merlin Nadj-Torma

Das Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam gekonnt Theater spielen und musizieren führt bei „Displace Marilyn Monroe“ zu einer herausragenden Teamleistung. Live-Musik und viel Gesang sind dabei ein zentraler Part. Dabei wäre die reine Fokussierung auf das Thema Behinderung aber definitiv ein falsches Attribut für das Stück. Behinderungen mögen verletzlich machen– aber gleichzeitig können sie stark machen. Die Zuschauer vor der Bühne können natürlich nicht sehen, was in den  Köpfen der Darsteller sich geht. Was sie denken, wie sie sich selbst sehen, wie sie die Situation einschätzen. Augenscheinlich ist aber die Passion und der Stolz auf das gemeinsam Erreichte.

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Regisseurin Lis Marie Diehl über Selbst- und Fremdwahrnehmung.

Die innerliche Zerrissenheit eines Weltstars

In „Displace Marilyn Monroe“ treffen so zwei Ebenen aufeinander. Nicht nur die der Selbst- und die der Fremdwahrnehmung, sondern auch die der einzelnen Stimmungslagen. Gefühle der Freude, des Haderns, des Enthusiasmus und der Melancholie – Stimmungen, die jedermann kennen dürfte. Die Künstler schaffen es auf beeindruckende Weise, die Zuschauer wie ein Strudel in das Stück hineinzuziehen. Mal ist die Stimmung ausgelassen und fröhlich, die Künstler lachen auf der Bühne lauthals los und das Publikum lacht automatisch mit. Dann aber wird die Atmosphäre wieder düsterer, die Künstler wirken nachdenklich und ernsthaft. Die innerliche Verzweiflung und Unsicherheit jener blonden Frau, die als personifiziertes Schönheitsideal galt – sicherlich kein einfaches Thema, das es da auf die Bühne zu bringen gilt. Gleichzeitig jedoch dürfte die Problematik „Mehr Schein als Sein“ viel näher am Alltag sein, als sich auf den ersten Blick vermuten lässt. Schließlich steckt das Unperfekte in allen Menschen. Und diese Gemeinsamkeit kann verbinden. 

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Warum Lis Marie Diehl das Projekt besonders gefallen hat.

Es muss nicht immer Idealmaß sein

Und gerade das, was von vornherein gut zusammenpasst, wird am Ende meistens gut. Unterschiedliche Fähigkeiten, unterschiedliche Leidenschaften, unterschiedliche Talente – diese zusammenzubringen, zu einem großen Ganzen zu vereinen und zu „übersetzen“ ist, was für I CAN BE YOUR TRANSLATOR zählt. So hat die siebzehnjährige Anna Reizbikh eine unglaublich klare und sanfte Stimme – und singt von ihrem Rollstuhl aus alle an die Wand. Linda Fisahn  hat das Down-Syndrom. Sobald sie auf die Bühne betritt, reißt sie die Zuschauer mit, bringt sie mit ihren Gesten und Ausstrahlung zum Lachen – ihre Behinderung ist auf der Bühne kein Thema. Und in Sachen Tanzen macht Laurens Wältken keiner so schnell etwas vor. Egal ob ein langsamer Walzer, ein verrückter Gruppentanz oder eine lustige Pirouette – Laurens Tanzkünste kommen gut an. Mittels Videoprojektoren werden die anderen Darsteller abwechselnd an einem Schminktisch gezeigt. Den Blick im Spiegel wird auch über Schönheit und Falten lamentiert – und über Idealmaße. Dabei lernen die Zuschauer, dass sogar der ideale Weihnachtsbaum die Größe von Marilyn hat, nämlich 1,66 Meter. Auch dies ein Maß, dem nur wenige entsprechen.

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Lis Marie Diehl über das Konzept des Musiktheaters.

Die eigene Selbst- und Fremdwahrnehmung überdenken

Erst in der Gruppe entstehen schließlich die Ergebnisse, mit denen sich jeder identifizieren kann. Erst, wenn sich jeder einbringt, wenn jeder sein Quäntchen dazugibt und neue Anreize liefert – erst dann wird eine Sache richtig gut. Nicht nur witzig sollte „Displace Marilyn Monroe“ sein, nicht nur „Musical-Feeling vermitteln“, findet Regisseurin Lis Marie Diehl. Die Zuschauer sollen aus der Vorstellung auch etwas „mit nach Hause nehmen“. Sie soll die Zuschauern zu neuen Gedanken anregen, ihnen neue Denkstöße liefern – jedoch ohne dabei in eine bestimmte Richtung zu lenken. Ob der Zuschauer seine eigene Selbstdarstellung überdenken will oder beschließt, sein Verhalten gegenüber fremden Menschen zu verändern, soll jedem selbst überlassen bleiben. Schließlich liefert künstlerische Freiheit immer auch Raum für ebenso freie Interpretationen.

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„Eine klare Message gibt es nicht“, findet Lis Marie Diehl.

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Inklusion ist mehr

Doch neue Gedanken und Denkanstöße liefert „Displace Marilyn Monroe“ allemal. Wie nehmen wir andere Menschen wahr? Schauen wir ihnen zuerst ins Gesicht, in die Augen, auf die Hände? Bilden wir uns schon eine starre Meinung, bevor wir mit anderen Menschen sprechen? Lassen wir uns von Äußerlichkeiten beeinflussen, vielleicht sogar abschrecken? Und hören wir vielleicht sogar eher auf andere Personen und lassen uns auf keinen unvoreingenommenen ersten Eindruck mehr ein?

„Displace Marilyn Monroe“ lädt ein, über diese Fragen nachzudenken und sein Verhalten zu reflektieren. Denn auch Inklusion heißt mehr als Menschen mit Behinderungen in einen Prozess einzubinden. Es bedeutet, diesen Menschen auch auf der zwischenmenschlichen Ebene das Gefühl zu vermitteln, geliebt, gebraucht und anerkannt zu sein. Es bedeutet, alte Hierarchien aufzubrechen und gemeinsam etwas zu schaffen. In diesem Fall, gemeinsam etwas Künstlerisches zu schaffen. Es bleibt zu hoffen, dass das Stück, welches unter anderem vom Land NRW, Aktion Mensch und der TU Dortmund gefördert wurde, noch einmal auf die Bühne kommen kann. Der minutenlang anhaltende Applaus und die Standing Ovations im Domicil, nachdem die letzten Klänge von „Displace Marilyn Monroe“ erloschen, unterstreichen diese Hoffnung.

Einsicht in die Proben von Displace Marilyn Monroe

 

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