Gegen jeden Instinkt

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Foto: Karsten Kubow

Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf. „Bist du eigentlich bescheuert, was machst du hier?“ Ich will springen, mein Kopf auch, aber alle Körperinstinkte arbeiten dagegen. Ich sitze in der Tür eines Kleinflugzeugs und werde gleich zum ersten Mal mit einem Fallschirm aus dem Flieger springen. Die Knie zittern, ich schwitze. Die Nadel des Höhenmessers zittert bei 1500 Metern, wenn ich nach unten schaue, sehe ich den Flugplatz Marl.  Eins vorweg: Dieses Gefühl, wenn man gerade aus dem Flieger springt, lässt sich durch nichts, was ich je erlebt habe, überbieten.

Zusammen mit zwei Freunden hatte ich mir vor einem halben Jahr bei einem gemütlichen Bier die verrückte Idee in den Kopf gesetzt: Einmal im Leben Fallschirmspringen – das Gefühl des freien Falls erleben, dann von einem Schirm aufgefangen werden und sanft zur Erde gleiten. Aus einer Idee wurde der Plan, und je näher das besagte Wochenende rückte, desto gespannter wurde ich.

Um alleine Fallschirmspringen zu dürfen, musste ich zunächst einen anderthalb-tägigen Kurs absolvieren. Aber ich hatte keine Ahnung, auf was ich mich da eingelassen hatte.

Die Ausbildung

Samstagmorgen, 9 Uhr. Mit meinen beiden besten Freunden komme ich am Flugplatz in Marl an. Die Sonne scheint, weite Sicht, ein perfekter Spät-Sommertag. Während die ersten Profispringer schon das Flugzeug besteigen und mit ihren schnellen Sportfallschirmen auf der Wiese nebenan wieder landen, beginnt für uns die Grundeinweisung. In einem kleinen Schulungsraum geht es an die Basics: Wie sieht so ein Fallschirm überhaupt aus? Wie kann ich ihn steuern? Woher weiß ich, wo ich landen muss?

In der Theorie klingt das alles einfach, dann kommen die ersten praktischen Trainingseinheiten: Der Absprung aus dem Flugzeug wird auf einer großen Matte geübt. Mit militärischem Drill trichtert uns der Ausbilder ein, dass nach dem Absprung der Körper unter Spannung stehen muss und der Bauchnabel die tiefste Stelle zu sein hat. Angeblich ist das in der Luft einfach, auf einer Weichbodenmatte aber nicht – ich finde es eher anstrengend. Erst beim fünften Versuch war der Ausbilder ansatzweise zufrieden mit meiner Haltung. „Der Bauchnabel muss nach unten, mehr Körperspannung bis in die Zehenspitzen“, heißt es für mich immer wieder, dabei zittern meine Beine schon vor Spannung.

Beim echten Absprung wird der Fallschirm mit einer Leine am Flugzeug befestigt, sodass er sich automatisch beim Absprung öffnet. Jetzt lernen wir, was da alles schiefgehen kann, die Leine könnte nicht richtig auslösen, sie könnte reißen, sie könnte sich um den Schirm wickeln, durch verdrehte Leinen könnte sich der Schirm nicht richtig öffnen und bei etwa jedem dritten Absprung ist der Schirm in sich verdreht. Kopfkino! Ist das wirklich so eine gute Idee?

Um die Panik zu steigern, sehen wir ein Schock-Video, indem jede nur erdenkliche Störung mit Horrorbildern gezeigt wird. Aber eigentlich kann ja gar nichts passieren, schließlich haben wir einen Reserveschirm dabei. 

Im Hängesimulator wird das Notprozedere geübt.

Im Hängesimulator wird das Notprozedere geübt. Foto: Karsten Kubow

Panik und Stress im Simulator

Zur Übung hänge ich in einem Simulator einen Meter über dem Boden und öffne meinen Hauptfallschirm. Dann das obligatorische Zählen: tausendeins, tausendzwei, tausenddrei. So viel Zeit gibt man dem Schirm, dann muss er geöffnet sein. Der Ausbilder zeigt mir jetzt wieder Schockfotos und ich muss innerhalb von Sekunden reagieren: Muss ich den Schirm abtrennen und meine Reserve öffnen? Die Übung setzt mich unter Stress, schließlich muss ich auch in Panik richtig funktionieren. Ich hänge also im Simulator und sehe das Foto: Der Schirm hat sich nicht ansatzweise geöffnet. Ich muss schnellstmöglich das Notprozedere starten: „Schauen, greifen, schauen, greifen, abtrennen und Reserve“. Obwohl es nur eine Simulation ist, bin ich total gestresst und kriege meine Gedanken kaum sortiert. Dazu immer die mahnenden Worte des Ausbilders: „Noch 1000 Meter, noch 900, noch 800, …“

Beim ersten Test wäre ich gestorben, denn ich habe den Hauptschirm getrennt und gleichzeitig die Reserve geöffnet. Höchstwahrscheinlich hätten sich beide Schirme ineinander verfangen und ich wäre wie ein Stein zu Boden gefallen. Mit einem flauen Gefühl im Magen darf ich den Simulator wieder verlassen, beim zweiten Versuch muss das aber besser klappen, denke ich mir.

Im Simulator werden wir stundenlang gedrillt, bis jeder im Schlaf richtig entscheidet und blind das Notprozedere durchführen kann: schauen, greifen, schauen, greifen, abtrennen und Reserve.

Mit gemischten Gefühlen endet der erste Tag, irgendwie zweifele ich doch an meiner Idee, vielleicht sollte ich doch nicht springen. Auf der Rückfahrt vom Fluglatz ist die Stimmung im Auto deutlich ruhiger und gedrückter als auf dem Hinweg morgens.

Horrorszenarien statt Aufmunterung

Völlig übermüdet komme ich mit meinen Freunden Sonntagmorgen wieder am Flugplatz Loemühle an. Noch nie habe ich so unruhig geschlafen. Die ganzen Notfallübungen haben mich verunsichert. Und statt mit aufmunternden Tipps geht es mit Horrorszenarien weiter. Wie am Vortag, nur noch schlimmer.

Sollte ich im Wasser landen, muss ich beim Wasserkontakt den Fallschirm abtrennen. Ich sollte vermeiden auf der Autobahn zu landen. Und wenn man in eine Hochspannungsleitung gerät, sollte man sich so schmal wie möglich machen, um keine zwei Kabel kurzzuschließen. Der Schirm fängt aller Voraussicht nach Feuer, und wenn der Netzbetreiber den Strom abschaltet, kann die Feuerwehr einen aus der Leitung bergen. Unser Ausbilder zitiert das offizielle Handbuch: „Das möchte man nicht erleben, viel Glück!“

Logisch aber Realitätsfern

In meinem Kopf wirkt das fast schon wie eine Satire: Ich werde also gleich Fallschirmspringen, und falls ich dann in einer Hochspannungsleitung lande, dann fängt der Schirm halt Feuer, kommt vor … Und wenn ich auf Bahngleisen lande, sollte ich versuchen, die Oberleitung nicht zu berühren. Klingt logisch, aber für mich sehr realitätsfern, da ich ja nur theoretisch weiß, wie man einen Fallschirm überhaupt lenkt.

Mit einem schriftlichen Test endet die Ausbildung. Beim Test ist es so still wie bei der Abiturprüfung. Voller Konzentration beantworte ich die Fragen, bloß nicht den Eindruck erwecken, ich hätte irgendetwas Wichtiges vergessen. 

Fallschirmspringen, so geht's:
Falschirmspringen kann jeder! Man muss sich vorher von einem Arzt untersuchen lassen, muss aber nur „durchschnittlich Gesund“ sein.

Man sollte sich etwa ein halbes Jahr im Voraus anmelden, Sprungbetrieb ist von Frühjahr bis Herbst.

Ein Kurs mit automatischer Öffnung des Fallschirms bei Absprung kostet etwa 200€.

Jetzt gibt es kein Zurück mehr

In der Sprunghalle ziehen wir unsere Ausrüstung an. Ich habe die modischste Kombination erwischt: knallroter Overall, rosa Helm, garniert mit einem grünen Rucksack, es muss wahnsinnig sexy aussehen!

Jetzt wird es ernst: Der Ausbilder aktiviert am Fallschirm das CYPRES, ein System, dass eine Notöffnung veranlasst, wenn man in 600 Metern Höhe noch ohne Schirm zu Boden fällt.

Ich steige in den Flieger, meine Hände zittern vor Nervosität. In der kleinen Propellermaschine ist es eng und laut, man sitzt auf dem Boden, die Öffnungsleine wird am Flieger befestigt. Die Luft ist stickig, ich schwitze, auch vor Aufregung. Die Maschine startet und kreist über dem Absprunggelände. Mein Höhenmesser zeigt 1500 Meter an. Vor mir öffnet sich das Rolltor. Sofort spüre ich den Wind und höre die lauten Propeller. Der Ausbilder fixiert mich mit den Augen: „Bereit? Los, in die Tür!“ Ich rutsche vor und setze mich an die Kante. Meine Beine baumeln im Nichts, 1500 Meter über der Erde. Es ist anstrengend, sich in der Tür zu halten, der Wind drückt mich immer wieder ins Flugzeug zurück. Jetzt wäre die letzte Möglichkeit die ganze Aktion abzublasen und nicht zu springen. Mein Kopf sagt: „Spring!“ Mein Körper sagt mir: „Tu’s nicht!“ Ich schaue dem Ausbilder in die Augen, der Moment in dem entschieden wird, ob ich wirklich springen darf. Der Ausbilder fragt: „Alles klar?“ Wie wir es am Tag vorher geübt haben, antworte ich so laut ich kann: „Okay!“ Dann gibt er mir einen Klopfer auf die Schulter und ich rutsche aus der Maschine und denke nur noch: Freifall-Haltung! Freifall-Haltung!

Stillstand der Zeit

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Wie in Watte gepolstert schwebe ich durch den Himmel über Marl. Foto: Karsten Kubow

Während des Aufsteigens im Flugzeug sind mir alle Bedenken durch den Kopf gegangen, alle Instinkte haben sich gewehrt. Ein Urinstinkt sagt mir: „Tu das nicht!“ Es kostet mich viel Überwindung, mich gegen meine Instinkte zu entscheiden und doch zu springen. 

Im Moment des Absprungs bleibt die Zeit stehen. Völlige Reizüberflutung. Ich rase ungebremst Richtung Erde, um mich herum Wolken, unter mir ein atemberaubender Blick, über mir das Dröhnen der Propeller.

Nach einer gefühlten Ewigkeit der totalen Überforderung will ich gerade anfangen zu zählen: Tausendeins, tausendzwei, tausenddrei. Doch plötzlich merke ich, dass ich mich nicht in meiner Position halten kann. Aus der horizontalen Freifallhaltung kippe ich in die Senkrechte, ich kriege es für einen Moment mit der Angst zu tun, bis ich realisiere, dass sich in diesem Moment der Fallschirm schon geöffnet hat und ich sicher in der Luft hänge. 

Erleichterung

Ich schaue nach oben, um den Schirm zu kontrollieren – der obligatorische Kappencheck.

Alles perfekt, nichts verdreht, nichts verknotet. Alle Panikübungen waren zum Glück unnötig. Im Gehirn kommen so viele Emotionen und Eindrücke auf einmal zusammen, dass ich mit den Eindrücken völlig überfordert bin. Mehrmals schaue ich nach oben, um wirklich sicherzugehen, dass der Schirm richtig geöffnet ist. Der Drill bei den Notfallübungen hat eben doch seine Spuren hinterlassen.

Ich hänge sicher unter meinen Schirm und gleite sanft durch den Himmel, ein Gefühl, das sich nicht in Worte fassen lässt. Ganz laut schreie ich „Whooo!“ durch die Wolken über Marl.

Ich steuere das Landegebiet an, eine Wiese, die mit einem großen, weißen X markiert ist. Von unten kriege ich über Funk Anweisungen, wie ich den Schirm zu lenken habe. Das macht es mir sehr einfach, richtig zu landen. Ohne die Hilfestellung wäre ich schon viel zu tief gewesen, bis ich mit dem Landeanflug begonnen hätte. Die Erde kommt näher: noch 10 Meter, noch 5, ich ziehe beide Steuerleinen voll durch, um den Schirm so weit wie möglich zu bremsen.

Falschirm-Landung

Die letzten Meter vor der Landung, hier wird der Schirm fast bis zum Stillstand gebremst. Foto: Karsten Kubow

Butterweich berühren meine Füße die Wiese. Nur das mit dem eleganten Auslaufen müsste ich noch üben: Ich kippe nach hinten und setze mich auf meinen Hintern. „Wenn es dir gut geht, wink jetzt!“, ruft es aus meinem Funkgerät. Ich reiße beide Arme in die Höhe. Mein Adrenalinpegel ist unter der Decke, ich fühle mich so gut wie noch nie. 

Auf der Wiese bleibe ich vor lauter Erschöpfung liegen, ich bin hundemüde, aber trotzdem total aufgeregt. Ich habe es getan!

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Sichtlich erschöpft nach dem Sprung. Mein Adrenalinpegel ist unter der Decke! Foto: Karsten Kubow

 

 

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