Zwischen Erotik und Ekel

„Die Nacht, als sich die Welt auflöste“ – der Titel klingt ganz harmlos, aber dahinter steckt ein Buch, das mit völlig unverblühmter Darstellung von Sexualität überrascht. In Peggy Munsons Roman geht es um erotische Abenteuer jenseits der Geschlechtergrenzen. Frauen nennen ihre Liebhaberinnen „Daddy“, tragen Umschnalldildos und leben ihre sexuellen Fantasien frei aus – kompromisslos und für den ahnungslosen Leser oftmals verstörend. Wieso wollen wir das trotzdem lesen?

Die Nacht, als sich die Welt auflöste - Buchcover (Gestaltung: Verlag und Freundinnen)

Die Nacht, als sich die Welt auflöste - Buchcover (Gestaltung: Verlag und Freundinnen)

Egal ob Zauberschüler, Heimatkrimis oder Vampirgeschichten – auf dem Buchmarkt gibt es regelmäßig große Trendthemen. Seit „Feuchtgebiete“ und „Shades of Grey“ kommen auch drastische Schilderungen von Sexualität immer mehr in Mode. Aber was sind die Hintergründe dieses Trends?

Für den Dortmunder Literaturwissenschaftler Nils Jablonski steht ganz klar der Skandal im Vordergrund. Seit Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ sei die Tendenz hin zu pornografischen Inhalten und expliziter Schilderung ungewöhnlicher sexueller Erfahrungen zu beobachten. Durch geschicktes Marketing würden die Texte zu einem Skandal aufgebauscht, um  öffentliches Interesse zu erzeugen.

Solange diese Skandal-Wirkung anhält und ein Buch in der Öffentlichkeit diskutiert wird, finden sich auch besonders viele neugierige Leser, denn wir suchen immer das Neue, das Aufregende, etwas, das wir noch nicht kennen. Im Moment ist das ein neuer Umgang mit Sexualität: Offenheit und Neugier gegenüber Praktiken und Vorlieben, über die in der Öffentlichkeit bisher nicht gesprochen wurde.

Themen irgendwo zwischen Erotik und Ekel werden gesellschaftsfähig, Minderheiten, wie die Lesben in Peggy Munsons „Die Nacht, als sich die Welt auflöste“ werden zu Romanhelden – obwohl, oder vielleicht gerade weil wir sie eigentlich nicht verstehen.

Sobald aber der Skandal etwas abgeflaut sei und wir uns daran gewöhnt hätten, dass man auch über solche Themen schreiben und lesen darf, wird auch das Interesse daran zurückgehen, meint Nils Jablonski. „Irgendwann ist eine bestimmte Sättigung erzeugt. Es wird zum Altbekannten, es wird mehr oder weniger normal, erwartbar. Und dann wird es neue Trends geben“, meint er.

Solche neuen literarische Phänomene gebe es oft aber schon, bevor sie ins Bewusstsein der Öffentlichkeit treten, erklärt Jablonski weiter. Viel hängt also davon ab, wie gut die Verlage ihre Bücher vermarkten und uns die Themen verkaufen. Wirklich neu ist dabei das allerwenigste, denn häufig entstehen neue literarische Gattungen aus der Kombination von altbekannten Genres.

Am Beispiel von Twilight würde das bedeuten: Aus zwei alten Themen, nämlich Horrorliteratur und Liebesgeschichten wird ein neues Genre, nämlich Liebesgeschichten, in denen plötzlich die Horrorfigur Vampir mit weichen, menschlichen Eigenschaften auftaucht. Was uns dann als ganz neues Thema verkauft wird, ist also eigentlich schon ein alter Schuh.

Sex statt Kontext

Auch erotische Literatur hat eine lange Vorgeschichte und letztendlich ist es in Peggy Munsons Roman nur die Thematik der unklaren Geschlechterrollen, die das Buch von anderen unterscheidet. Leider gelingt es der Autorin nicht, die Besonderheiten dieser Rollen wirklich herauszuarbeiten. Viel zu sehr reduziert sie die Erzählungen auf die detaillierte Beschreibung pornografischer Szenen, statt die Protagonistinnen zu charakterisieren. Sie spricht von Daddys und Bois, Femmes und Butches, aber wer sich nicht schon vorher mit dieser Szene auskennt, weiß mit diesen Begriffen nichts anzufangen und verliert im Geschlechter-Wirrwar einfach den Überblick.
Letztendlich schwimmt das Buch mit auf der Welle der sexuellen Enthüllung, die mit Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ begonnen hat und verpasst dadurch die Gelegenheit, die eigentlich viel spannenderen Hintergründe der Genderqueer-Szene zu beleuchten.

Peggy Munsons Romanfiguren werden beinahe ausschließlich auf ihre Sexualität reduziert und darüber hinaus kaum beschrieben und charakterisiert. Einerseits verschwimmen dadurch die Grenzen zwischen den Geschlechtern in interessanter Weise, andererseits verhindert diese Anonymität aber auch die Identifikation mit den Figuren. Zur Beschreibung verwendeten Begriffe wie „Femme“, „Boi“, „Butch“ oder „Daddy“ stehen für bestimmte Rollen und Typen in der Szene, ein Leser, der keinen tieferen Einblick in die lesbische und queere Szene hat, wird dadurch aber nur verwirrt.

Ebenso irreführend ist die konsequente Verwendung männlicher Pronomen für die Frauen mit männlichen Rollen. Wenn Peggy Munson schreibt: „Er schlang seine Arme um mich“,  oder „er reibt seinen Schwanz“ dann meint „er“ tatsächlich eine Frau – oft mit einem Silikonpenis ausgestattet.

Als ihr erster Roman Origami Striptease 2006 für den Lambda-Literaturpreis, einen Preis für lesbische, schwule, bisexuelle und transsexuelle Literatur, nominiert war,  wurde Peggy Munson kurzfristig von der Verleihung ausgeschlossen, weil die Jury ihren Roman für heterosexuelle Literatur hielt.

Man kann Peggy Munson unterstellen, sie wolle mit der deutungsoffenen Geschlechterbeschreibung stereotype Geschlechterrollen infrage stellen, vielleicht will sie auch einfach nur die Normalität der Transgender-Kultur betonen. Letztendlich schafft sie aber vor allem Verwirrung und stößt Leser, die aus Neugier in das Buch schauen, ohne sich vorher mit der LGBT-Kultur (Lesbian, Gay, Bisexual und Trans) beschäftigt zu haben, mit drastischen Schilderungen roher Sexszenen vor den Kopf.

Die Autorin Peggy Munson

Peggy Munson schreibt bevorzugt queere Texte. (Foto: Unbekannter Fotograf)

Dem im Klappentext versprochenen poetischen Sprachstil wird sie dabei in keinster Weise gerecht. Teilweise mag dies der Übersetzung vom Englischen ins Deutsche geschuldet sein, die an einigen Stellen auf erklärenden Fußnoten zurückgreifen muss, weil es nicht gelungen ist, Wortspiele und Anspielungen zu übertragen.

Oft fehlt aber auch schlichtweg der Schritt auf eine tiefere psychologische Ebene, der Text kratzt nur an der Oberfläche und schafft es nicht, über die Pornografie hinaus etwas zu transportieren.

Die Autorin

Peggy Munson lebt in Massachusetts. Die Autorin hat sich auf lesbische und queere Literatur spezialisiert und wurde dafür unter anderem mit dem Queerlit-Literaturpreis ausgezeichnet.

Unter dem Titel „Die Nacht, als sich die Welt auflöste“ hat sie im Konkursbuch Verlag erstmals Texte in Deutschland veröffentlicht. Es handelt sich um eine Sammlung von Erzählungen, die im Original nur verstreut erschienenen sind. Die deutsche Übersetzung stammt von Regina Nössler und van Rijn.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert