Selbstversuch: Nachtschicht auf dem Sofa

In einem Land vor unserer Zeit: WM in Brasilien heißt wenig Schlaf für besonders hartgesottene Fußballfans. Ein einziges Spiel hat die FIFA auf eine für Mitteleuropäer besonders abstruse Uhrzeit gelegt. Wenn in Recife um 22 Uhr Ortszeit Anstoß ist, schlägt die Uhr in Deutschland 3. Pflichtlektüre-Autor Paul Klur hat diese Extremsituation getestet und sich den Klassiker Japan gegen die Elfenbeinküste gegeben. Eine Geschichte von Mittelfeldgeplänkel, Reinhold Beckmann und Didier Drogbas Körpermaßen.

1. Halbzeit

+++2.45 Uhr: Mein Wecker klingelt. Verschlafen patsche ich mit der Hand auf meinem Nachtisch herum und schaue auf die Uhr. Es geht los! Ich verfluche mich, jemals diese Idee gehabt zu haben, aber stehe auf, bevor ich sofort wieder einschlafen kann.+++

+++2.50 Uhr: „Zisch“- eine Dose Energydrink geht auf. Ich mache den Fernseher an – es ist so weit. Die Mannschaften von Japan (JPN) und der Elfenbeinküste (CIV) stehen bereits im Spielertunnel, und warten darauf, mich in den nächsten 105 Minuten bestens zu unterhalten. Kommentator Jens-Jörg Rieck verspricht die „beste Mannschaft, die Japan je zu einer WM geschickt hat“ und die „letzte große Chance“ für die goldene Generation der Elfenbeinküste mit Superstar Didier Drogba.+++

+++2.56 Uhr: Im Gegensatz zu dem grauenhaften Geschacher, dass sich EURO 2012 nennen durfte, gab es bei dieser WM von Anfang an Topspiele mit sehr vielen Toren, daher ist meine Grundstimmung gut. So langsam weicht die Müdigkeit aus meinen Gliedern, aber meine Augen fühlen sich immer noch ziemlich schlaff an.+++

+++2:58 Uhr: Ich liebe Japans Nationalhymne „Kimi Ga Yo“. Wie eine Mischung aus „Peter und der Wolf“ und Takeshi´s Castle. Ernsthaft: Ein wenig Gänsehaut macht sich breit. In Japan ist es jetzt gleich 10 Uhr morgens. Fußball zum Frühstück gab es in Deutschland letztmals zur WM 2002 in Fernost. Ich beneide das Land der aufgehenden Sonne.+++

+++2.59Uhr: Die erste Dose Energydrink ist leer – ich schäme mich ein wenig aber habe jetzt sogar etwas Lust auf das Spiel.+++

+++1. Minute: Kommentator Rieck macht Hoffnung auf viele Buden, indem er die Defensivreihen der beiden Mannschaften denunziert. In Recife ist übrigens Hammerstimmung, irgendein Vuvuzela-Ersatz von der Elfenbeinküste macht Riesenlärm, aber rhythmischer, als wir es aus Südafrika gewohnt sind.

Die Arena Pernanbuco in Recife

Die Arena Pernanbuco in Recife (Foto: Grupo 1 Construcciones/Flickr; Creative Commons)

+++3. Minute: Ein besonders bulliger ivorischer Verteidiger heißt Serge Aurier, auf dem Trikot ist der Vorname tatsächlich zu S. abgekürzt zu finden: S.AURIER. Um kurz nach 3 finde ich das einigermaßen lustig.+++

+++6. Minute: Ich höre, dass Didier Drogba (CIV) vorerst nicht spielt. Eben hat Uruguay mit Suarez auch seinen besten Mann geschont und damit gegen einen der zwergigsten Fußballzwerge überhaupt verloren – Costa Rica. Mal sehen, wie das hier ausgeht.+++

+++10. Minute: Japan steht so tief, wie man es ohne Otto Rehagel auf der Bank nur tun kann und sorgt damit erfolgreich für Mittelfeldgeplänkel.+++

+++12. Minute: Es wird immer mittelfeldiger, also wage ich einen Blick auf das Fernseh-Alternativprogramm. „Braveheart“ und „Zwei glorreiche Halunken“ versprechen Spannung und Unterhaltung. Da muss wohl jemand wissen, dass ich zur werberelevanten Zielgruppe gehöre.+++

+++15. Minute: Ich schalte eine zweite Lampe dazu, um meine Augen zu beschäftigen, keine Ahnung ob das hilft. In Recife regnet es in Strömen. Eine Ecke führt zur ersten halbwegs zufälligen Torchance im Spiel.+++

+++16. Minute: Und dann ist wie aus dem nichts der Ball drin, und wie! Honda (JPN) hat den Turbo gezündet (au weia, das später besser rausnehmen!) und bombt ihn ins linke obere Eck. Rieck lobt die Japaner, sie hätten die Elfenbeinküste „in den Schlaf gespielt“. Nicht nur die, auch für mich kam das Tor extrem überraschend.+++

+++18. Minute: Die Kamera zeigt ein Insekt auf dem Platz. It´s a bird! It´s a plane! „Es ist auf jeden Fall kein gefährliches Tier!“, gibt Rieck Entwarnung. Ich atme erleichtert auf.+++

+++21. Minute: Uchida (JPN) dribbelt sich durch den Strafraum und zirkelt den Ball auf den Mann. Aber so langsam macht das wirklich Spaß. Und ich weiß wieder, warum ich mir das antue.+++

+++25. Minute: Yaya Touré (CIV) mit einem mäßigen Freistoß. Eigentlich fehlen diesem Spiel ja dann doch nicht die großen Namen – es kommt ganz auf die Erwartungshaltung an.+++

+++30. Minute: Den Jungs von der Elfenbeinküste würde ich ja schon mal ein Törchen gönnen, aber das ist spielerisch noch sehr halbgar. Dieses seltsame Bläserensemble der ivorischen Fans ist aber immer noch im Takt, alle Achtung.+++

+++31. Minute: Artur Boka vom VfB Stuttgart schießt einen ordentlichen Standard knapp am rechten Winkel vorbei. Wichtiger: Ich will auch dieses Freistoßspray, um meine Kumpel auf dem Bolzplatz nerven zu können!+++

+++35. Minute: Bin etwas enttäuscht, weil ich im Internet die Dosen mit dem weißen Schaum nirgendwo bekomme.+++

Keisuke Honda rüttelte auch die Zuschauer mit dem 1:0 für Japan wach. (Foto: Calcio Streaming/Flickr; Creative Commons)

Keisuke Honda rüttelte auch die Zuschauer mit dem 1:0 für Japan wach. (Foto: Calcio Streaming/Flickr; Creative Commons)

+++38. Minute: Habe eben England gegen Italien nur im Halbschlaf mitbekommen, schaue das Ergebnis nach. 1-2. Ich habe sogar alle Tore noch in Erinnerung. Finde es sehr lustig, dass Costa Rica in der Gruppe C auch nach Italiens Sieg noch Tabellenführer ist. Ich liebe Underdogs – und Mario Balotelli.+++

+++41. Minute: Rieck hebt die wenigen Strafraumszenen hervor. Ein vernichtendes Urteil, gehört aber zu einem Spiel um diese Uhrzeit dazu. Kurz vor der Pause schläft das Spiel förmlich ein, ein paar unkoordinierte Torraumszenen der Elfenbeinküste sind aber immerhin ein kleiner Hingucker.+++

+++45+1 Minute: Ich werde wieder wach, denn Jens-Jörg Rieck hat gerade die belgische Liga, wo der japanische Torwart spielt, eine „große ausländische Liga“ genannt. Du Schelm!+++

+++45+2 Minute: Rieck: „Es ist kein Spektaktel.“ Kann ich so unterschreiben. Es ist Halbzeit. „Hier ist noch nichts entschieden. Dranbleiben, liebe Nachtschwestern“.  

Halbzeitpause

+++3:50 Uhr: Juhu! Reinhold Beckmann bespricht das Spiel, Opdenhövel ist beneidenswerterweise schon im Bett. Beckmann ist „offen gesagt enttäuscht von der Mannschaft der Elfenbeinküste.“ Ich frage mich jetzt mal ernsthaft, was er erwartet hat.+++

Der eigentliche Man of the Match: Reinhold Beckmann (Foto: qnibert00/Flickr; Creative Commons)

Der eigentliche Man of the Match: Reinhold Beckmann (Foto: qnibert00/Flickr; Creative Commons)

+++3:52 Uhr: Die ARD zeigt einen Moderator aus den 70ern auf einem übergroßen Tischfußballfeld, um die unglaubliche Qualität ihrer WM-App anzupreisen.+++

+++3:55 Beckmann macht sich neckisch über die Abwehr der Elfenbeinküste lustig und erinnert mich dabei an so manche Klausurbesprechung in Latein. Ich bin froh, dass ich nicht mehr in der Schule bin.+++

+++3:57 Auch Beckmann fährt auf das Freistoßspray ab – das macht die Standards doch zu einem „sahnigen Erlebnis“. Noch bevor mir das Wasser im Munde zusammenläuft, bemerke ich, dass das sich wie ein Songtitel von seinem neuen Album anhört.+++

+++3:59 Beckmann macht die hautengen Trikots für das Versagen der Elfenbeinküste verantwortlich. Ich bin mir sicher, das Serge Aurier darin keine Luft bekommt.+++

Punkt 4 Uhr: Ich halte einen FDP-Flaschenöffner in der Hand. „Plopp.“ Ernsthaft? So lange wachgeblieben für einen billigen Kein-Bier-vor-4-Gag?

2. Halbzeit

+++46. Minute: Es geht endlich weiter, und endlich macht sich Drogba warm.+++

+++47. Minute: Kontrolle an der Haustür. Ja, das Spiel ist ein echter Straßenfeger. Ich könnte jetzt die einmalige Gelegenheit nutzen und einen Regentanz auf der Hauptstraße machen. Ich habe aber niemanden, der mein Bier hält.+++

+++49. Minute: Rieck spricht Drogbas Namen wie ein ehrfürchtiger Achtjähriger beim Paninitausch auf dem Schulhof. Glitzersticker versteht sich.+++

Identifikationsfigur für einen ganzen Kontinent: Ivorer Didier Drogba

Identifikationsfigur für einen ganzen Kontinent: Ivorer Didier Drogba (Foto: United Nations Development Programe/Flickr; Creative Commons)

+++53. Minute: Der Kommentator erinnert uns zum Glück daran: „Wir sind hier bei der Weltmeisterschaft des Fußballs.“ Das Spiel der Elfenbeinküste ist darauf leider noch nicht so richtig eingestellt.+++

+++55. Minute: Bislang schönste Szene der zweiten Hälfte: Bamba (CIV) senst Okazaki (JPN) und nimmt noch bevor er ihn berührt die Arme zur „Ich war´s nicht“-Geste hoch.+++

+++58. Minute: Die Elfenbeinküste kommt nur ab und zu über Fernschüsse zum Zug, aber jetzt wird es erst einmal richtig lärmig im Stadion. Rieck verliest Drogbas Körpermaße und man spürt die leichte Erregung in seiner Stimme. Der große Meister hat sich das orangene Leibchen übergestreift.+++

+++60. Minute: Um der Müdigkeitswirkung des Bieres zu trotzen, muss eine zweite Dose Energy dran glauben. Dachte immer, dass das bei mir nichts nützt, aber meinetwegen könnte jetzt noch ein Spiel kommen! Schweiz gegen Ecuador wäre als nächstes dran, noch so ein Hammer. Kann die FIFA da nix machen?+++

+++61. Minute: Man muss es ihm lassen: Drogba macht direkt Alarm im gegnerischen Strafraum. Auch Jens-Jörg Rieck verneigt sich vor „dem Meister.“:  „Drogba im 16er“, das klingt wie „Captain auf der Brücke“ bei Raumschiff Enterprise.

+++64. Minute: Und kurze Zeit später ist das Runde im Eckigen! 1-1 durch einen sauberen Kopfball eines Mannes mit dem schönen Namen Wilfried Bony (CIV).+++

+++66. Minute: Und da ist der nächste!!! Japans Torhüter sieht bei diesem Schüsschen von Gervinho sehr bedröppelt aus. Dabei spielt er doch in solch einer Topliga! Das waren 120 Sekunden vollgepackt mit Kraft und Emotion – als wäre Blurs „Song 2“ ein Fußballspiel.+++

+++73. Minute: Jetzt ist aber erst mal Schluss mit lustig, Boka wird genervt vom Platz getragen und auf dem Platz passiert nicht mehr viel. Ich bin aber wach genug, um keine dritte Dose Energy mehr aufzumachen. Eigentlich schmeckt das Zeug ja auch gar nicht. Ich überlege kurz, ob ich mir einen Tee als Ersatz machen soll. Aber in 15 Minuten habe ich es geschafft und ich will eigentlich nicht mehr wach sein, wenn Beckmann den spätesten (oder frühesten?) Moderationsslot seiner Karriere voll auskostet.+++

+++79. Minute: Ya Konan kommt für den Torschützen Bony, ich freue mich völlig sinnlos über die Einwechslung eines Bundesligaspielers. Als der Ton kurz ausfällt, höre ich Vogelzwitschern. Es dämmert ja! Wer holt mir jetzt Brötchen?+++

+++80. Minute: Kommentator Rieck nennt den 1,89m großen Drogba einen „Riesen“. Kurzer Abgleich mit meinem Personalausweis: Ein Zentimeter Unterschied. Wenn ich gleich die Treppe raufgehe, werde ich mich vorsorglich ducken.+++

+++85. Minute: Kagawa wird ausgewechselt. Auffälligste Szene der Japaner in der zweiten Halbzeit.+++

+++87. Minute: Riesen-Überzahlsituation für die Elfenbeinküste. Aber Gervinho spielt wie der Junge, den auf dem Bolzplatz früher alle wegen seiner Egotrips gehasst haben. Den, dem ich mit den Freistoßspray auf den Sack gehen möchte.+++

+++90. Minute: Japan hat in der zweiten Hälfte so unauffällig gespielt, dass es fast schon eine Leistung ist. Sie haben offensichtlich keinen Bock mehr, ich aber tatsächlich noch. Los, macht was für euer Geld! Immerhin 4 Minuten Nachspielzeit.+++

+++90. Minute+2: „100 % Elephants“ auf einem Fanschal der Ivoren. Nach Freitagabend und dem Spiel gegen Holland nur ein schwacher Trostversuch für Juan Carlos.+++

+++90. Minute+4: Jetzt ist es vorbei! Der Masochismus klopft an: „Jetzt noch Beckmann?“ „Aber sicher!“+++ 

+++4:55 Uhr: Das Stadion leert sich sehr schnell. Japanerinnen mit seltsamen Helmen und WM-Pokalen in den Händen bleiben übrig. Sie können es immer noch nicht fassen, dass ihre Mannschaft bereits nach 45 Minuten weniger präsent war, als Kevin Kuranyi bei seinem letzten „großen Auftritt“ in der Nationalmannschaft.+++

+++4:56 Uhr: Eigentlich ist ja alles klar: „Man braucht nicht viel zu reden“, sagt Giovane Elber. Eine nette Idee, aber Beckmann bohrt weiter: „Fandest du die japanische Mannschaft so gut, weil es so viele Japaner in Brasilien gibt?“. Elber gibt klein bei und spricht über seinen Lieblings-Gemüsehändler.+++

+++4:59 Uhr: „Drogba ist übrigens nicht sehr groß, nur knapp über 1,80.“ Beckmanns beste Zeile bisher. Und wenn es am schönsten ist, sollte man aufhören.+++

Fazit: Sicher keine familienfreundliche Aktivität, Spiele zur schlimmsten Tageszeit überhaupt bringen den Biorhythmus völlig durcheinander. Schließlich ist es immer etwas seltsam, ins Bett zu gehen, wenn es gerade erst hell wird. Ich bereue es aber nicht – immerhin war das Spiel trotz mäßiger Qualität noch unterhaltsam. Ich bin aber doch froh, dass nur dieses eine Spiel mitten in der Nacht stattfindet, und hoffe, dass dies vorerst mein letztes Abenteuer dieser Art bleiben wird. Denn in den nächsten Tagen spürt man den unregelmäßigen Ablauf immer noch in den Knochen, und ich will ja fit sein, wenn die deutsche Nationalmannschaft auf dem Platz steht.

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