Pornos im Hörsaal: „An der Uni sollte es keine Tabus geben“

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Höschen aus, Beine breit: Auch an der Uni – aber wissenschaftlich. Fotos: Julia Schindler

Herr Lenz, in der Uni setzen Sie sich wissenschaftlich mit Pornos auseinander. Die meisten Menschen reagieren ungläubig, wenn sie von Ihren Seminaren hören. Ich habe mich im Zuge meiner Dissertation mit Liebesbeziehungen beschäftigt und festgestellt, dass die Beziehung zwischen Liebe und Sex in unserer Gesellschaft zunehmend verklärt wird. Gerade durch Erfindungen wie Tinder wird Liebe sehr stark vom Körperlichen getrennt. Liebe ist das, was wir fühlen, aber unser Körper funktioniert eigenständig. Dann habe ich im Seminar „A History of Pleasure and Perversion“ mit den Studenten darüber gesprochen, was für uns schön ist im sexuellen Bereich und was wir als pervers betrachten würden. Und allein dieser Kurs hat schon sehr viel Anklang gefunden. Sex ist ein wichtiger Bestandteil unserer Gesellschaft. Ich finde es wichtig, dass man Allgemeinbildung hat. Und erotische Literatur gehört dazu. Es sollte keine Tabus geben in der Universität. Nichts sollte nicht gelehrt werden dürfen. Gilt das auch für Sprache? Sollte man in der Uni Begriffe verwenden dürfen wie „fucking“ oder „pussy“? Aufgeklärt sollte man alles machen dürfen. Und wenn man der Meinung ist, dass „fucking“ in dem Moment der richtige Begriff ist, kann man das auch sagen. Manchmal macht man eben keine „Liebe“.

Und Action: Bereit für den Porno-Dreh.

Und Action: Bereit für den Porno-Dreh.

Sie sagen, Pornografie ist allgegenwärtig. Welchen Einfluss hat es dann auf die Gesellschaft, was wir in Pornos zeigen? Oder ändert sich das nicht so stark? Man kann sehr stark sehen, wie Pornos ein gewisses Schönheitsideal zeigen, auch weil sie vornehmlich aus Amerika kommen: Großbusige Frauen, durchtrainierte Männer mit einem riesigen Penis, haarlose, fast schon kindlich anmutende Vaginen. Man sieht auch, dass wir dem Folge leisten. Wenn Jugendliche das sehen und nicht darüber gesprochen wird, gehen sie davon aus, dass ihr Körper so aussehen muss. Was definitiv zu psychologischen Problemen führen kann. Abgesehen von Schönheitsidealen: Mittlerweile gibt es so viele Unterkategorien. Es gibt den Gonzoporno, es gibt den Amateurporno, viele Leute möchten sich zeigen. Das ist ein neuer Exhibitionismus, der im Porno stark vertreten ist, den wir aber auch bei Facebook haben. Gerade im Internet ist die Maxime zu beobachten: Ich möchte immer dafür bewundert werden, was ich mache. Schockiert Sie noch irgendetwas? Ja, tatsächlich. Das war ein Roman aus dem viktorianischen Zeitalter in England, der in seiner Darstellung von Vergewaltigung und Frauenfeindlichkeit bisher das Extremste war, das ich gelesen habe. Darin wird eine Frau von zwei Männern vergewaltigt, und das nur, um ihr zu zeigen, dass sie nichts wert ist. Die Vergewaltigungen ziehen sich teilweise über mehrere Tage und sind sehr grafisch geschildert. Das hat mich geschockt, und darüber war ich wiederum selbst überrascht. Aber vielleicht ist es gut, dass wir noch geschockt werden können, dass wir noch erkennen: Wir haben Grenzen. Das macht uns ja schließlich menschlich. Die Frage ist, wie wir dann damit umgehen. Was sagen Sie dann Leuten, die Pornografie für gefährlich halten? Wenn die Moralhüter sagen, dass Pornografie unsere Gesellschaft zerstört, ist das einfach falsch. Noch sind wir alle da. Noch haben wir ein Konstrukt, das man durchaus Gesellschaft nennen kann. Was ich auch festgestellt habe: Unsere Suche nach Liebe ist wesentlich stärker geworden, weil wir immer nur den sexuellen Akt gezeigt bekommen. Wir haben ein starkes Bedürfnis nach Zwischenmenschlichkeit. Die kann durch Sex natürlich gestärkt werden, aber wir wollen tatsächlich mehr den Menschen, nicht nur den Körper. Gibt es überhaupt noch Tabus? 

In Szene gesetzt: Beide sind bereit für den Geschlechtsverkehr.

In Szene gesetzt: Beide sind bereit für den Geschlechtsverkehr.

Als 2011 der Roman Fifty Shades of Grey herauskam, gab es auf einmal einen Aufschrei: „Oh, das ist ja ganz was Neues mit Sado-Maso-Praktiken.“ Die sind schon Jahrhunderte bekannt, und der Marquis de Sade hat es um 1800 noch viel weiter getrieben, aber trotzdem hat E. L. James mit ihrem Buch überrascht. Was mich wiederum überrascht hat. Man möchte sich nicht zugestehen, dass man mehr kennt, und das führt dann zu Aufschreien. Meistens von der Instanz in unserer Gesellschaft, die sich als Moralhüter bezeichnen würde – es ist ohnehin meist religiös-moralisch motiviert, wenn Leute sagen: „Oh nein, das ist ja total schlimm!“ Ist das Schockierende an Fifty Shades nicht, dass es von so vielen gelesen wird? Dass es ein Bestseller ist, in dem Sadomasochismus vorkommt? Schockierend war es tatsächlich nur für die Leute, die das Internet nicht ausführlich durchforsten, weil Fifty Shades komplett im Internet entstanden ist. Damals hat E. L. James ihre Leser gefragt: Was möchtet ihr lesen? Die Leute konnten partizipieren an der Geschichte von Anastasia. Die, die nur gedruckte Bücher lesen, waren schockiert, dass so etwas auf einmal im Laden auftaucht, während der Rest von uns technisiert aufgewachsenen Menschen wusste: Ja, das ist da. Für mich war dieser Schock, der durch die Literaturbranche und durchs Feuilleton gegangen ist, ein Zeichen dafür, dass dort mehr über den eigenen Tellerrand geschaut werden muss. In der Branche wird gerne zwischen hoher und Trivialliteratur unterschieden. Geht das auch bei Pornografie? Ich bin grundsätzlich gegen diese Unterscheidung. Wer darf entscheiden, was was ist? Was man unterscheiden kann, ist „gut geschrieben“ und „nicht so gut geschrieben“. Gerade der Marquis de Sade wird mittlerweile auch als hohe Literatur bezeichnet. Ein weiteres Beispiel ist Lady Chatterley’s Lover, das verboten wurde und jetzt ein Literaturklassiker ist. Das ist auch wieder eine dieser Wellen: Wir akzeptieren etwas, weil etwas Krasseres aufgetaucht ist. Es könnte also sein, dass Fifty Shades of Grey in 30 Jahren zum Klassiker avanciert? Definitiv. Aber das kann man tatsächlich nur rückwirkend sagen. Wenn man ein Buch allerdings verurteilt, dann sollte man auch wissen, weswegen man es verurteilt. Gelesen habe sollte man es. Aber einmal reicht dann auch.

Anspielend und sexy: Sie hält einen Penis-Lutscher in der Hand.

Anspielend und sexy: Sie hält einen Penis-Lutscher in der Hand.

Fifty Shades ist ein Werk, das durchaus rezensiert wurde. Grundsätzlich gibt es aber kaum einen Diskurs über Pornografie – egal ob wissenschaftlich oder feuilletonistisch. Sollte es den geben? Auf jeden Fall. Nur so kann Aufklärung geschaffen werden. Aufklärung meine ich jetzt nicht im Sinne von „Das ist gut oder schlecht“, sondern, dass man offener wird Pornografie gegenüber. Wenn ich etwas verheimliche, dann wird es nur umso attraktiver. Und das hat sich tatsächlich auch in filmischer Pornografie gezeigt. In dem Moment, in dem der mächtige Teil der historischen Gesellschaft den anderen Teilen Pornos zugebilligt hat, hat man gesehen: Es ist nichts untergegangen. Die Welt steht immer noch halbwegs fest da. Und deswegen sollte man darüber reden, definitiv. Wieso gibt es diesen Diskurs dann nicht? Dann müssten die Leute ja zugeben, dass sie Pornografisches gelesen haben. Dann fallen Masken. Wenn man dann sagt: Ich fand das gar nicht so schlecht mit dem Auspeitschen, tendieren wir dazu, sofort Schlüsse zu ziehen: „Ach, du magst das auch?“ Wir fangen sofort an, moralische Kategorien einzusetzen, was in der Literaturkritik nicht viel zu suchen hat. Man sollte über alles reden und alles schreiben können. Pornografische Filme hingegen werden aufgeteilt in künstlerisch wertvolle und solche, die nur der Lustbefriedigung dienen. Mir fällt der Film Idioten von Lars von Trier ein: Da gibt es eine Szene, in der explizit Penetration gezeigt wird, aber in einem Kontext, der sehr ästhetisch sein soll und auf Missstände hinweist – dann ist es wieder ok. Das ist ein Rettungsanker, den sich Leute selber zuwerfen: „Ist ja Kunst.“ Wobei ja auch Filme von Lars von Trier für Skandale sorgen, Antichrist zum Beispiel. Darin kommen auch explizite Sexszenen und ein fragwürdiges Frauenbild vor. Lars von Trier sorgt für Skandale, aber man kann dann sagen: Das ist ein „Auteur“. Er wollte provozieren. Wenn jetzt irgendein Porno daherkommt und sagt: „Ich wollte übrigens provozieren“, dann sagen alle: „Nee.“ Ein dänischer Forscher hat vor einiger Zeit gefordert, dass man Pornos schon in der Schule auf den Lehrplan setzen sollte. Würden Sie das unterschreiben? Es sollte viel mehr Aufklärung betrieben werden, um dem Porno auch dieses glorifizierte Sexuelle zu nehmen. Dieses Perfekte-Körper-Haben, perfekter Sex, der perfekt lange dauert, und alle kommen – das passiert so nicht. Was ist dann für Sie Sinn und Zweck von Pornografie? Ich denke, dass Pornografie uns andere Seiten zeigen kann. Im Sinne von dem, was vielleicht in uns schlummert, ohne dass wir es wissen. Dass wir in uns Gelüste haben, die wir vielleicht gar nicht formulieren können. Pornografie kann uns helfen, diese zu identifizieren. Bei lesbischer und schwuler Pornografie zum Beispiel: Man weiß vielleicht, dass man tief in sich drin nichts mit Heterosexualität anfangen kann. Und gerade solche Pornos schaffen dann, sowohl geschrieben als auch gefilmt, Normalität. Man sieht: „Diese Leute, die so sind wie ich, haben Spaß, sie werden nicht vom Blitz getroffen und zeigen eine Sexualität, die genauso schön und natürlich ist, wie jede andere Art.“ Das gilt auch für den SM-Bereich. Schmerzen können auch ein Ausdruck von Körpergefühl sein, können eine bestimmte Lust hervorrufen. Man sollte es allen zugestehen, diese Lust zu empfinden, und Pornografie kann in diesem Moment befreiend sein. Selbst wenn ich mir eine kleine Subkultur suchen muss, in der ich meine Gelüste auslebe. Aber diese Filme und Bücher zeigen: Es gibt sie. Da hat sich jemand anders schon Gedanken drüber gemacht. Das ist wichtig. Warum sind Gewalt und Machtverhältnisse so zentrale Motive in der Pornografie? Sex muss immer in beidseitigem Einverständnis passieren. In pornografischen Texten und Filmen entsteht dennoch meist ein Machtgefälle, was mit den intendierten Zuschauern zu tun hat. Die Frau wird sehr oft als vom Mann dominiert gezeigt, weil sich der Porno zu einem sehr hohen Maß an männliche Zuschauer richtet. Aber sind diese Geschlechterverhältnisse realistisch?

Richtig ausgeleuchtet: Die Protagonistin wird für den Porno ins rechte Licht gestellt.

Richtig ausgeleuchtet: Die Protagonistin wird für den Porno ins rechte Licht gestellt.

Ein schönes Beispiel ist da die Stripperin. Wir würden immer sagen, dass die Stripperin objektifiziert wird, sie wird angegafft, ausgestellt. Aber letzten Endes obliegt es der Stripperin, ob sie sich auszieht. Und dadurch ist sie in einer Machtposition. Ich verstehe durchaus, wenn Frauen sagen, dass ihr Geschlecht im Porno objektifiziert wird. Das ist definitiv der Fall. Ich finde allerdings, das ist zu einfach. Wie verhält es sich dann zum Beispiel bei lesbischer Pornografie? Was sagen Sie zum Zustand der Pornografie 2015? Pornografie ist nicht so schlecht, wie alle immer behaupten. Pornografie ist sehr präsent. Und sie durchbricht alle Schichten, jeder hat Zugang dazu und jeder, egal was er oder sie sagt, hat Kontakt mit Pornografie. Sagt das etwas über unsere Zeit aus? Mitnichten. Pornografie hat immer schon einen gewissen Stellenwert in unserer Gesellschaft gehabt. Manchmal stellt man fest, dass sie zu präsent ist und fährt sie dann wieder herunter. Das ist immer eine Auf- und Ab-Bewegung, aber konstant ist die Tatsache, dass Pornografie bleibt. Und wo befinden wir uns gerade in dieser Bewegung? Das kann man tatsächlich immer erst rückwirkend sagen, wenn sich wieder eine starke Gegenbewegung entwickelt hat. Aber wir sind schon recht pornografisiert. Durch Internetplattformen haben wir sehr viel und sehr schnell Zugang zu Pornografie. Wir lernen so aber auch mehr das Zwischenmenschliche zu schätzen. Pornografie von Liebe zu trennen, ist natürlich einerseits richtig, weil es zwei verschiedene Dinge sind: Das eine ist der Lust geschuldet, das andere der Emotion. Aber auf der anderen Seite zeigt uns Pornografie auch, wie wichtig Liebe ist: Wir können nicht nur allein der Lust nachgehen. Wie werden Pornos in 30 Jahren aussehen? Ich glaube, es ist drei Jahre her, da gab es den ersten 3D-Porno, der komplett ausverkauft war. Ich glaube, dass sich das weiterentwickeln wird. Es gibt jetzt schon Vorrichtungen, in die man den Penis einführt und sich damit selbst befriedigt. Das soll sich dann anfühlen wie eine menschliche Körperöffnung. Die kann man unter Tablets montieren und sich dann einen Porno angucken, der aus der Ich-Perspektive gefilmt ist. Die Technologie wird viel mehr mit unserem Körper verschmelzen. Das wird auch den Porno sehr beeinflussen. Irgendwann werden wir uns selbst in Pornos implementieren können. Aber das ist futuristisch, utopisch vielleicht.

Zur Person
 Christian_LenzChristian Lenz ist Dozent für Britische Literatur- und Kulturwissenschaften und forscht seit 2008 zu den Themen Liebe, Postmoderne Literatur und Horrorliteratur. Seit einem Jahr bietet der 32-jährige außerdem Seminare zum Thema Pornografie und erotische Literatur an. Auf dem Lehrplan stehen da neben Klassikern wie D. H. Lawrence’s Lady Chatterley’s Lover auch Fifty Shades of Grey von E. L. James oder The Secret Diary of a Call Girl von Belle de Jour. Die Studenten besprechen und analysieren pornografische Literatur und Filme und schreiben selbst. So heißt ein Themenblock zum Beispiel „Creative Writing: Hard Core Porn“. Teilnehmen kann, wer Englisch oder Angewandte Literatur- und Kulturwissenschaften studiert. Dieses Semester gibt es sogar zwei Termine für „Spilling Ink“ – eine Warteliste gibt es trotzdem. 
Mehr zum Thema
Lexikon Marquis de Sade: Französischer Romanautor des 18./19. Jahrhunderts, auf den der Begriff des „Sadismus“ zurückgeht. In seinen Werken verband er pornografische und philosophische Elemente, sie wurden deshalb immer wieder zensiert. Lady Chatterley’s Lover: Roman aus dem Jahr 1928, der im England der Zwischenkriegszeit spielt und von den Affären der verheirateten Constance Chatterley handelt. Wurde in vielen Ländern zensiert oder ganz verboten. Mit den expliziten Beschreibungen von Geschlechtsverkehr wollte Autor D. H. Lawrence damals den extremen Intellektualismus seiner Zeit kritisieren und bewusst das Körperliche betonen. E. L. James: Autorin der 2011 erschienenen Erotik-Roman-Trilogie Shades of Grey, deren erster Teil 2015 in die Kinos kam. Das Besondere an der Reihe sind die Schilderungen von BDSM-Sex zwischen der Studentin Anastasia und dem Unternehmer Christian Grey. Bei den Kritikern kam das Buch eher schlecht weg, bei den Lesern dagegen umso besser: Die Bücher führten in mehreren Ländern die Bestsellerlisten an. Gonzo-Porno: Pornofilm-Genre, bei dem der Zuschauer sich ins Geschehen hineinversetzt fühlen soll. Dafür sorgen zum Beispiel Nahaufnahmen der Genitalien, außerdem nimmt der Kameramann oft am Geschehen teil. Plot und Dialoge sind, wenn überhaupt vorhanden, eher nebensächlich. Auteur: In der „Auteur-Theorie“ wird der Regisseur als Künstler und Gestalter eines Films gesehen, somit wird der Film zum Kunstwerk. Lars von Trier: Preisgekrönter dänischer Regisseur, dessen Filme wie Nymphomaniac oder Antichrist explizite Sex-, aber auch Gewaltdarstellungen beinhalten. Seine Werke werden oft als Kunstfilme bezeichnet. 

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