Wir sind der Verkehr

San Francisco im September 1992: Ein paar dutzend Radfahrer treffen sich, um für ihre Rechte im Straßenverkehr zu protestieren. Während sie durch die bergigen Straßen der Stadt radeln, rufen sie lauthals Parolen wie „Wir sind der Verkehr“ oder „Verbrennt Fett statt Öl“.

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Die Critical Mass hat zwei Ziele: Mehr Rechte für Fahrradfahrer und Spaß. Foto: flickr.com/detritus.

Sie nennen sich selbst „Critical Mass“, die kritische Masse. Eine Protestfahrt mit Folgen: Schon nach wenigen Wochen zählt die außergewöhnlich Fahrraddemo in San Francisco durchschnittlich 1000 Mitfahrer, und 19 Jahre später hat sich die Critical Mass über den gesamten Erdball ausgebreitet: Von Costa Rica bis Norwegen, von Malaysia bis Litauen fahren Radler in bunten Gruppen, um für ihre Sache einzutreten.

Die „Velokitchen“ als Zentrum der Dortmunder Fahrradszene

So auch in Dortmund. Jeden zweiten Samstag im Monat findet hier die Critical Mass statt- losgeradelt wird um 15 Uhr am Friedensplatz. Seit Jahren gibt es hier eine aktive Fahrradszene, deren Zentrum sich in der sogenannten „Velokitchen“ in der Nordstadt befindet. Die Velokitchen ist eine von der Gemeinschaft betriebene Fahrradwerkstatt. Hier geben erfahrene Schrauber ihr Wissen an Amateure und Jugendliche aus dem Viertel weiter. Als Unkostenbeitrag spendet dann jeder so viel, wie er kann und möchte. Außerdem wird in der angrenzenden Küche vegan gekocht und beim anschließenden Essen werden mögliche Aktionen wie die Critical Mass geplant.

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Vom Punk bis zum Spießer - auf der Critical Mass findet man Radfahrer aller Couleur. Foto: Jonas Strohschein.

Am vergangenen Samstag haben sich rund 50 Radfahrer auf dem Dortmunder Friedensplatz zusammengefunden, um von dort ihre allmonatliche Tour zu starten. Punks mit roten Haaren, Familien mit Kindern, Hippies mit Atomkraft- Nein Danke- Aufklebern und gesetzte Herren in der ADAC-Reflektorweste – das Teilnehmerfeld könnte nicht gemischter sein. Genauso, wie ihre fahrbaren Untersätze: Klappräder, Liegeräder, Rennräder und alte Rostmühlen warten gemeinsam auf ihren Einsatz. Pünktlich um drei Uhr hört man schließlich Elektromusik aus den mobilen Fahrradboxen eines Teilnehmers. Die Masse setzt sich klingelnd in Bewegung. „Nobody knows where it goes“ singt eine Stimme über Elektrobässe, und dieser Text ist Programm für die Critical Mass. Ein vorgegebenes Ziel gibt es nicht. Wer gerade vorne fährt bestimmt den Weg, und so geht es durch die Innenstadt, vorbei am Hauptbahnhof, entspannt dem Borsigplatz entgegen. Natürlich auf der Hauptstraße.

Das Verhältnis zur Polizei ist nicht immer einfach

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Keine Chaoten: Die Critical Mass unterbricht ihre Fahrt für einen Rettungseinsatz. Foto: Jonas Strohschein.

Die Critical Mass nutzt hierfür eine Lücke im Gesetzbuch: Wenn mindestens 15 Personen gemeinsam unterwegs sind, dürfen sie einen Verbund bilden, der gemeinsam nebeneinander auf der Straße fährt. Auch rote Ampeln haben dann nur noch eingeschränkt Bedeutung, erklärt Critical Mass Teilnehmer Miguel Martins: „Das kann man sich so vorstellen, wie einen Bus. Wenn die vorderste Reihe über eine grüne Ampel fährt, kann der Rest nachziehen um den Verbund nicht auseinanderzureißen. Aber der Vordere muss natürlich trotzdem bei rot stehen bleiben.“

Mit der Polizei haben die Critical Mass-Teilnehmer gemischte Erfahrungen gemacht, berichtet Mitfahrer Axel Ricken von einer früheren Fahrt: „Die haben uns für politische Chaoten gehalten. Erst für rechte, dann für linke. Mit insgesamt acht Fahrzeugen haben die uns verfolgt, versucht zu trennen und willkürlich gefilmt. Aber das hat sich in den letzten Monaten gebessert. Wir haben gezeigt, dass wir keine Chaoten sind.“ Auch die Polizei Dortmund zeigt sich grundsätzlich gesprächsbereit, bedauert aber, dass sie bei den Verbundfahrten keinen namentlich verantwortlichen Ansprechpartner vorfindet. Politisch ist die Critical Mass nicht im klassischen Sinn, erklärt Liegerad-Fahrer Ricken: „Wir wollen halt zeigen, dass Fahrradfahren Teil der Gesellschaft ist. Jedes Fahrrad bedeutet ein Auto weniger im Straßenverkehr. Wir sind aber keiner politischen Richtung zuzuordenen, weder schwarz, noch rot, noch grün, noch gelb. Wir sind bunt gemischt.“

Shit happens!“

Ein Polizist nimmt einen Unfall zu Protokoll

Für einige Teilnehmer nimmt die Fahrt ein ungeplantes Ende - Schuldfrage ungeklärt. Foto: Jonas Strohschein.

Nicht alle Verkehrsteilnehmer teilen diese Begeisterung für die Critical Mass. Während einige Passanten begeistert ihre Handykameras zücken oder spontan ein Stück mitfahren, gibt es auch immer wieder riskante Überholmanöver von Autos. Wild gestikulierend und ungeduldig hupend ziehen ihre Fahrer an der Gruppe vorbei. Schließlich kommt es sogar noch zu einem Zwischenfall: Ein Mofafahrer fühlt sich von einigen jungen Mitfahrern der Gruppe bedrängt, es kommt zum Zusammenstoß. Während ein Großteil der Critcal Mass-Teilnehmer die Radtour friedlich weiterführt, kochen die Emotionen am Ort des Geschehens hoch. Gegenseitige Schuldzuweisungen, unfreundliche Worte von beiden Seiten, ein zerkratzter Motorroller und ein zerbeultes Fahrrad. Letztendlich braucht es die Polizei, um zwei grundverschiedene Versionen des Unfalls aufzunehmen und die Gemüter wieder zu beruhigen. Axel Ricken bringt es trocken auf den Punkt: „Shit happens!“

Abgesehen von diesem Zwischenfall, rollte auf der 16. Dortmunder Critical Mass aber alles bestens. Strahlender Sonnenschein, fröhliche Gesichter und gute Musik bestimmten den Tag. Und ganz nebenbei konnten die Teilnehmer auch noch ihre Botschaft unter die Dortmunder bringen: „Wir sind der Verkehr!“ So wie damals in San Francisco.

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