Sehbehindert, aber selbstständig

Ein Beitrag von Haika Hartmann

Treppensteigen vermeidet Sandra. Auch wenn es nur in den zweiten Stock geht und der Fahrstuhl überfüllt ist. Denn die Treppen sind eine große Hürde für die Studentin: Sie ist sehbehindert und leidet unter Rheuma. Dass sie deshalb jeden Tag aufs Neue vor dem Fahrstuhl warten muss, nimmt sie gelassen. „Es geht eben nicht anders“, sagt sie mit einem Schulterzucken.

Inmitten der dichtgedrängten Studenten im Fahrstuhl fällt sie nicht auf. Kein Blindenstock oder gar ein Hund verraten ihre Einschränkung. Nur die Brille mit den dicken Gläsern und ein leichtes Schielen auf dem rechten Auge zeigen, dass die 25-Jährige nicht so viel sehen kann wie ihre Kommilitonen. Auf dem rechten Auge ist sie blind, auf dem linken hat sie mit ihrer Brille noch 16 bis 20 Prozent der Sehkraft. Damit kann sie Gegenstände erkennen, auf größere Entfernung noch Farben und Schemen. „Aber ich weiß nicht, was es ist“, erklärt sie.

Zielstrebig läuft sie den Gang Richtung Seminarraum entlang, eine junge Frau kommt ihr entgegen. „Hallo Johanna!“, ruft sie ihr zu. Johanna hat auffällige rote Locken – daran hat Sandra sie identifiziert. Merkmale wie Haarfarbe, aber auch der Gang, Kleidung oder auffällige Rucksäcke helfen Sandra. „Wenn Haarfarbe und Rucksack zusammenpassen, weiß ich eigentlich, um wen es sich handelt.“

Schreiben mit Block und Stift

Sandra ist schon im achten Semester. Wegen ihrer Behinderung braucht sie länger, um Texte zu lesen und kann nicht so viele Veranstaltungen belegen wie ihre Kommilitonen. Dadurch dauert auch ihr Studium länger.

Sandra ist schon im achten Semester. Wegen ihrer Behinderung braucht sie länger, um Texte zu lesen und kann nicht so viele Veranstaltungen belegen wie ihre Kommilitonen. Dadurch dauert auch ihr Studium länger. Fotos: Haika Hartmann

Im Seminarraum steuert Sandra direkt auf einen freien Platz zu, hängt ihre Jacke über den Stuhl und stellt ihre Trinkflasche auf den Tisch. Sandra studiert Lehramt für Berufskollegs mit den Schwerpunkten Sozialpädagogik und Rehabilitationswissenschaften mit Förderschwerpunkt Sehen. Das heißt, dass sie später an Sehbehindertenschulen arbeiten kann.

Unter ihren Kommilitonen im Seminar „Soziale Arbeit und neue Medien“ ist sie die einzige mit einer Behinderung. Während die anderen ihre Laptops aus der Tasche holen und hochfahren, liegen vor Sandra Block und Stift. Seit sie vor vier Jahren angefangen hat, zu studieren, hat sie Rheuma – und seitdem ist der Laptop zu schwer. „Sonst hätte ich jeden Tag Nacken und Rücken verspannt“, sagt sie.

Den Text, den sie zu Hause vorbereiten sollte, hat sie in doppelter Ausführung dabei. Einmal in der normalen Variante, einmal vom Umsetzungsdienst der Uni so bearbeitet, dass Sandra ihn besser lesen kann. Das heißt vor allem: größere Buchstaben. Umsetzen lassen muss sich Sandra die Seminartexte eigentlich immer, entweder vom Umsetzungsdienst oder von ihrer persönlichen Assistentin. Im Text selber hat Sandra anders als ihre Sitznachbarin nichts markiert oder an den Rand geschrieben. Dafür holt sie ihre Notizen aus dem Rucksack, fein säuberlich auf weißem Papier geschrieben, Überschriften rot, Text blau. Sie hat ihre eigene Technik entwickelt, schreibt auf Papier, ohne störende Linien, erhöht die Kontraste durch ihre Farbauswahl und lässt immer gleich viel Platz zwischen den Zeilen.

Probleme mit Powerpoint

Bevor der Dozent seinen Vortrag beginnt, drückt er Sandra erst einmal einen Stapel Papier in die Hand: Die Powerpointfolien, je eine Folie pro Seite, denn die Projektion an der Wand kann Sandra nicht lesen. Während des Seminars hört Sandra aufmerksam zu, schreibt am Anfang noch detailliert mit – ihre Sitznachbarin checkt währenddessen ihr Facebook-Profil. Das typische Tastenklappern füllt den Raum.

Der Text in der Mitte ist der Originaltext, der linke wurde vom Umsetzungsdienst bearbeitet. Mit dem schwarzen Monokular kann Sandra Tafelanschriften entziffern. Fotos: Haika Hartmann

Der Text in der Mitte ist der Originaltext, der linke wurde vom Umsetzungsdienst bearbeitet. Mit dem schwarzen Monokular kann Sandra Tafelanschriften entziffern.

Irgendwann hört Sandra auf, sich Notizen zu machen. Sie hat ihre Bandage zu Hause vergessen. Das Rheuma belastet ihr Handgelenk, sodass es schmerzt beim Schreiben. Schwierig wird es auch, als der Dozent sich auf Grafiken bezieht. Die Folien hält sich Sandra direkt vor die Nasenspitze, damit sie die kleinen Zahlen und Balken entziffern kann.

Lesen nur mit Lesegerät

Nach dem Seminar geht Sandra kurz in die Emil-Figge-Bibliothek. Eigentlich ist sie dort nie alleine, sondern immer mit ihrer persönlichen Assistentin. Heute macht sie eine Ausnahme. Die Computer direkt am Eingang ignoriert sie – Bücher suchen könnte sie dort ohnehin nicht. „Das mache ich von zu Hause, da habe ich auf dem Laptop eine spezielle Vergrößerungssoftware“, erklärt sie. Die Bücher sucht sie dann gemeinsam mit ihrer Assistentin in der Bibliothek.

Zielstrebig läuft Sandra durch die Bücherreihen, vorbei am Kopierraum, biegt rechts um die Ecke und steht vor einer Tür, die kaum jemandem vorher aufgefallen sein dürfte. Ein schmuckloser Raum mit ein paar Tischen, aber in der Ecke steht etwas, das Sandra regelmäßig benutzt: ein Lesegerät. Was auf den ersten Blick aussieht wie ein Computer, ist eine Art Projektor, der eine Buchseite vergrößert anzeigt. Hier kann Sandra problemlos Inhaltsverzeichnisse durchforsten und entscheiden, ob sie die Bücher benutzen kann.

Zu viele Menschen verunsichern Sandra

Das Lesegerät, das Sandra zu Hause benutzt, hat um die 3.000 Euro gekostet. Die Kosten hat ihre Krankenkasse übernommen.

Das Lesegerät, das Sandra zu Hause benutzt, hat um die 3.000 Euro gekostet. Die Kosten hat ihre Krankenkasse übernommen.

Die Bücher liest sie allerdings lieber zu Hause. Darum macht sie sich auf den Weg zu ihrer Wohnung. Die Strecke kennt sie in- und auswendig: Erst mit der S-Bahn zum Hauptbahnhof, dann weiter mit der U-Bahn. Die Menschenmassen, die am Hauptbahnhof aus der Bahn strömen, machen sie allerdings nervös. Hektisch schaut sie hin und her, blinzelt auffällig oft. Auf dem Weg die Treppe hinunter hält sie sich am Geländer fest, die Hand verkrampft. „Ich kann nicht abschätzen, wie weit die Menschen entfernt sind“, sagt sie gepresst. Sandras Sehbehinderung hat sich schon im Kindergartenalter entwickelt – bevor die Augen Tiefensicht entwickeln konnten.

An der U-Bahn-Haltestelle, an der sie aussteigen muss, ist Sandra deutlich entspannter. Weniger Menschen, dafür eine kaputte Rolltreppe. Mühsam geht sie die Treppe hoch, zieht ein Bein etwas nach. „Das kommt vom Rheuma“, erklärt sie. Sandra ist extra eine Haltestelle später ausgestiegen, damit sie bergab laufen kann. Ihre Wohnung ist im dritten Stock, auch hier ist sie auf den Fahrstuhl angewiesen.

Ganz normale Studentenbude

Ihr eigenes Reich hat Sandra mädchenhaft eingerichtet: lila und weiß dominieren, Porzellanfiguren auf der Fensterbank. In der Ecke steht eine dreckige Kaffeetasse, auf dem Tisch eine 5-Minuten-Terrine – typisch studentisch eben. An der Wand hängen Eintrittskarten von Fußballspielen, vom VfL Bochum und der deutschen Nationalmannschaft. Sandra gibt zu, dass sie von den Spielen zwar nicht viel sehen kann – dafür hat sie Anspruch auf einen besonderen Sitzplatz und Audio-Kommentar.

Sandra hat verschiedene Hilfsmittel, um sich an der Uni zurechtzufinden. Mithilfe der Lupenbrille trägt sie sich zum Beispiel in Anwesenheitslisten ein.

Sandra hat verschiedene Hilfsmittel, um sich an der Uni zurechtzufinden. Mithilfe der Lupenbrille trägt sie sich zum Beispiel in Anwesenheitslisten ein.

Der Sessel steht fast direkt vor dem Fernseher, auf dem Schreibtisch steht ein Lesegerät. Die einzigen Indizien, dass Sandra behindert ist. Unter dem Lesegerät liegt noch der Text, den Sandra für ihr Seminar vorbereiten musste. Gekonnt demonstriert sie den Umgang mit dem Hilfsmittel, dreht an Knöpfen, verändert Kontraste. Trotzdem braucht sie länger als ihre Kommilitonen, bis sie den Text gelesen hat. Wegen des Rheumas kann sie außerdem nicht so viele Seminare besuchen. „Dadurch brauche ich einfach insgesamt länger“, erklärt sie mit einem leichten Anflug von Resignation in der Stimme.

Diagnose Rheuma

Mit ihrer Sehbehinderung habe sie sich schnell abgefunden, sagt sie abgeklärt. Anders mit dem Rheuma: „Das habe ich erst nur wenigen Leuten erzählt.“ Sie habe die Schuld bei sich gesucht, gedacht, sie sei faul, weil sie nicht mehr so viele Veranstaltungen belegen konnte. Dabei lag es an der Krankheit, dass sie schneller erschöpft war und Schmerzen hatte. Gegen das Rheuma nimmt sie Medikamente, jeden Tag Cortison, gut versteckt im Spiegelschrank im Bad. Ihre Medikamentengeschichte rattert Sandra herunter, als hätte sie sie auswendig gelernt, wirft mit Fachbegriffen um sich, die ein Unbeteiligter kaum versteht. So distanziert sie sich von der Krankheit, lenkt schnell ab von der schwierigen Anfangszeit und versteckt sich hinter Fachvokabular.

Vor allem eins will sie damit verhindern: dass die Leute Mitleid mir ihr haben. „Ich bin nicht arm dran“, betont sie. Denn Sandra kommt gut alleine zurecht. Bald zieht sie um, das Telefonat mit dem neuen Vermieter erledigt sie nebenbei, ganz souverän. Es besteht kein Zweifel:  Sandra wird auch in Zukunft ihr Leben meistern, trotz aller Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellen.