Drogenfrei in die Zukunft

„Ich stand vor der Wahl: Entweder ich bitte meine Eltern um Hilfe – oder ich sterbe.“

39 Kilo brachte Ariana noch auf die Waage, als sie ihre Eltern schließlich kontaktierte.
Sie war ganz unten angekommen. „Dreckig, schmutzig und abgemagert“, beschreibt sie selbst heute.

Aber nach Hause wollten Arianas Eltern sie nicht holen. Nach sechs Jahren war ihnen ihre eigene Tochter fremd geworden. Also buchten sie ihr ein Hotelzimmer, in dem sie 30 Tage lang bleiben konnte. Sie sollte dort etwas zu Kräften kommen und sich ihrem bisherigen Leben bewusst werden – und sie sollte dort einen Brief an die Fazenda zu schreiben.

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Fazendas gibt es überall auf der Welt – das Konzept aber kommt aus Brasilien. Fotos: Vivien Timmler

Eine Fazenda, das ist oft ein Bauernhof oder ein großes Haus, in dem junge Erwachsene zusammenleben und mit der Hilfe von Sozialarbeitern versuchen, von den Drogen loszukommen. „Fazenda des Esperanca“ ist portugiesisch und bedeutet übersetzt so viel wie „Hof der Hoffnung“. Und um in die dortige Gemeinschaft aufgenommen zu werden ist es nötig, einen Brief zu schreiben. Einen Brief, in dem man unmissverständlich seinen Willen erklärt, von den Drogen loszukommen. Es war für Ariana der einzige Weg.

„Für mich war es total egal, wo ich hinkomme – ich wollte eigentlich nur leben.“

Und es funktionierte: Sie wurde Rekuperantin (= sich Erholende). Im Dezember 2010 kam Ariana auf der Fazenda in São Paulo an. Die anderen Mädchen seien ihr damals sofort suspekt gewesen, erzählt sie heute, alle seien ihr so fröhlich vorgekommen, ganz anders, als sie selbst. „Ich habe mich für etwas Besonderes gehalten. Ich hatte auf der Straße gelebt, ich war die Schlimmste von allen. Ich dachte, dafür müsse man mich respektieren.“ Die Mädchen, die ein, zwei Jahre Drogen genommen hatten, waren für Ariana nichts besonderes – was hatten die schon durchgemacht.

„Je mehr Drogen jemand genommen hat, desto mehr Achtung hatte ich vor ihm.“

Und auch, wenn sie dem ein oder anderen Achtung entgegenbrachte – wirklich respektiert hat sie niemanden. Zu lange hatte es in ihrem Leben keine wirkliche Bezugsperson gegeben, zu lange war die nicht mehr demütig gewesen. Auch einen Zugang zu Religion hatte die damals 26-Jährige nie. Hat nie gebetet, nie an eine höhere Instanz geglaubt. Dass die anderen Mädchen glücklich aussahen, wenn sie aus der Kapelle kamen, war für sie unverständlich. Nach der Messe hat ihnen plötzlich sogar das Arbeiten Spaß gemacht, haben sie gelacht, auch wenn sie Schubkarren mit schweren Steinen durch die Gegend fahren mussten. Wie konnte das sein? 

„Ich konnte es noch nicht einmal aushalten, den Boden zu kehren. Also habe ich all den Dreck unter den Teppich geschoben.“

Doch auch, wenn ihr sie anderen Mädchen suspekt waren, begann Ariana doch, sie heimlich zu beobachten. Sie bemerkte, wie eine der Rekuperantinnen jede Nacht in die Kapelle ging. Jede Nacht sprach sie dort dasselbe Gebet: „Heiliges Herz Jesu, nimm aus meinem Herz alles, was nicht dein ist.“ Ariana solle doch auch einmal mit ihr beten kommen, habe die Rekuperantin damals gesagt. Aber Arianas Antwort war kalt und barsch.

„Nur weil du es 50 Mal sagst, wird Gott dich auch nicht hören!“

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Auf der ersten Fazenda ist Ariana noch skeptisch den anderen Mädchen gegenüber.

Aber je länger Ariana die anderen Mädchen beobachtete, desto mehr realisierte sie, dass es ihnen besser zu gehen schien. Also versuchte Ariana, auch ihr eigenes Herz zu öffnen. Für diesen Gott, den sie nicht kannte – noch nicht kannte. Sie entwickelte ihre eigene Art, mit ihm zu sprechen. „Die war nicht immer nett und höflich, aber es war eben meine Art. Und ich glaube, er hat mich verstanden.“ Und Ariana merkte, dass es auch ihr immer besser ging. Stück für Stück wurde sie zu einem anderen Menschen. Und sie machte Erfahrungen, die sie nie zuvor gemacht hatte:

„Die Mädchen haben mir immer Wasser gebracht, wenn ich lange in der Sonne arbeiten musste. Das hatte ich noch nie getan. Aber ich wollte es ausprobieren. Also brachte ich eines Tages einem Mädchen ein Glas Wasser nach draußen. Das war gar nicht so einfach, es war eine Überwindung für mich. Das Mädchen war anfangs sehr überrumpelt, schaute mich erstaunt an – aber dann hat sie sich bedankt. Ich bildete mir ein, dass die anderen mich komisch ansahen und über mich redeten – aber ich habe es trotzdem weiterhin gemacht. Denn plötzlich machte es mir Spaß, anderen zu helfen.“

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Auf Fotos lächelt Ariana zwar – in ihrem Inneren sieht es jedoch oft ganz anders aus.

Doch irgendwann kamen für Ariana auch auf der Fazenda die Probleme – vor allem mit ihrer Sexualität. Sie war lange in keiner Beziehung mehr gewesen, sehnte sich regelrecht danach. „Und so begann ich, alles falsch zu machen.“ Ariana ging eine Beziehung zu einem Mädchen auf der Fazenda ein – und brach damit eine der wichtigsten Regeln. Fast hätte man sie rausgeworfen, aber Ariana wollte kämpfen. Sie hatte angefangen zu beten, sah sich auf einem Weg der Besserung. Nach Hause zurückzukehren war undenkbar. Nach nur einem Monat auf der Fazenda hatten ihre Eltern das Vertrauen in ihre Tochter noch nicht zurückgewonnen. Zeitgleich bekam ihr Vater einen Schlaganfall – aus Sorge, was aus ihr werden würde, glaubt Ariana heute.

„Auf einmal realisierte ich, was für ein Trümmerhaufen mein Leben war.“

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Auf der zweiten Fazenda in Rio de Janeiro konnte Ariana endlich zu sich selbst finden.

Und so brachte man sie von der Fazenda in São Paulo auf die Fazenda in Rio de Janeiro.
Dort wollte sie einen Neuanfang wagen, dieses Mal alles richtig machen. Und es klappte.
Sie steckte ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse zurück, ging nicht noch einmal eine Beziehung ein, versuchte, auf die Anderen zu achten und diese ein Stück weit glücklich zu machen. Aber es fiel ihr nicht immer leicht. „Ich hatte auf der Straße gelebt, sah aus wie ein Junge. Hatte raspelkurze Haare, trug weite Kleidung … selbst meine Art zu sprechen, mein Gang … das war alles sehr männlich.“ Aber sie wollte sich verändern, unbedingt. Von innen und von außen. Sie erkannte, dass sie eine Frau sein durfte, auch wenn sie homosexuell war.

„Ich bin an meinen eigenen Herausforderungen gewachsen.“

Aufmerksamkeit und Liebe zu schenken, ohne im Gegenzug etwas zu erwarten – auch das lernte Ariana mit der Zeit. Bald fühlte sie sich als Teil der Fazenda, fand sogar Freundinnen dort. Natürlich habe auch sie weiterhin ihre Problemchen gehabt, lacht sie heute, aber die habe schließlich jeder. 

Trotzdem dauerte ihr Aufenthalt auf der Fazenda in Rio de Janeiro nur fünf Monate – anstatt der geplanten zwölf. Wieder hatte Ariana Probleme mit den Regeln, wieder konnte sie nicht das tun, was man von ihr erwartete. Und wieder wollten ihre Eltern sie noch nicht aufnehmen. Drogen hatte sie schon lange keine mehr genommen – aber das war eben nicht alles. Auf der Fazenda konnte sie nicht bleiben, also begab sie sich in die Dienste einer älteren Frau, die auf der Suche nach einem Hausmädchen war. Ariana putzte für die ältere Dame, lernte von ihr zu kochen, wohnte mit ihr zusammen. Und je mehr Zeit sie zusammen verbrachten, desto mehr wurde die ältere Dame zu einer Art Mutter für Ariana.

„Gott hat diese Frau in mein Leben gestellt.“

Und schließlich wurde auch das Verhältnis zu ihren Eltern wieder besser. Sie fühlte sich der älteren Dame unglaublich verbunden, war ihr unendlich dankbar – aber ein Kind sehnt sich nun einmal nach seinen Eltern. Mit 28 Jahren würde Ariana endlich in das Haus zurückkehren, in dem sie die einzige sorglose Zeit ihres Lebens verbracht hatte: ihre Kindheit.

Sieben Monate lang lebte Ariana wieder bei ihren Eltern. Sie ging regelmäßig zur Kirche und zur Jugendgruppe. Interessierte sich für die „charismatische Erneuerung“. Fuhr zusammen mit anderen jungen Erwachsenen einige Male zur Evangelisation.

Aber mit ihnen ging Ariana auch feiern. Sie tanzte abends in Clubs, war in der Stadt unterwegs – und traf auf Menschen, auf die sie besser nicht hätte treffen sollen. Menschen, die Alkohol tranken, die Drogen nahmen. Und eines Tages – die Gruppe war wieder einmal zur Evangelisation unterwegs – hielt Ariana es nicht mehr aus. Sie ging, setzte sich einfach ab – um erneut Drogen zu nehmen.

„Ich fiel zurück. Ich blieb mehrere Tage weg, war verschwunden. Nach zwei Jahren, die ich clean gewesen war.“

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