Kairo: Leben in Ungewissheit

Für Nadine Hassan ist es im Moment nicht einfach, die Wohnung zu verlassen. Die Studentin lebt in Kairo und erlebt die seit Wochen andauernden Unruhen hautnah mit – zwischen Sorge und Hoffnung.

Jeder Ausflug muss gut überlegt sein: Welche Viertel sollten gemieden werden, welche Straßen sind gesperrt, wo ist der Verkehr besonders schlimm? Seit dem Sturz von Präsident Mursi durch das Militär am 30. Juni ist das Leben in Kairo aus dem Takt geraten. „Es ist immer ein Risiko, rauszugehen“, sagt Nadine.

Nadine Hassan studiert Politik an der Universität Kairo. (Foto: Nadine Hassan)

Nadine Hassan studiert Politik an der Universität Kairo. (Foto: Nadine Hassan, Teaserbild: Aicha El-Edeissy)

Nach der Revolution im Jahr 2011, als der damalige Präsident Mubarak seinen lang ersehnten Rücktritt bekannt gab, herrschte in der Stadt Hochstimmung. „Wir haben uns auf einen Neuanfang gefreut, alle waren voller Tatendrang“, so Nadine.

Eine demokratische Regierung sollte gebildet werden, Kairo sollte schöner gemacht werden, Straßen sollten ausgebaut werden. Doch schon nach kurzer Zeit sei diese Stimmung verflogen. „Es war wieder wie vorher, nichts hat sich geändert“, sagt Nadine. Als sich die frisch gewählten Muslimbrüder dann nicht an demokratische Regeln hielten und versuchten, immer mehr Macht an sich zu reißen, wurde die Unzufriedenheit unter den Ägyptern wieder größer.

Die Oppositionsgruppe Tamarod (zu Deutsch: Rebell) sammelte insgesamt 22 Millionen Unterschriften gegen Präsident Mursi. Auch Nadine unterschrieb. „Mursi hat sich nicht an die Absprachen gehalten, das Volk will ihn nicht mehr“, sagt die 20-Jährige.

Angst vor dem Militär

Zu den politischen Unruhen kamen auch alltägliche Probleme. Ende Juni wurde in ganz Ägypten das Benzin knapp, an den Tankstellen bildeten sich lange Schlangen. Eine Katastrophe für die Neun-Millionen-Einwohner-Metropole Kairo, in der das Auto das zentrale Fortbewegungsmittel ist. „Ich stand vier Stunden an, um zu tanken“, sagt Nadine. „In der Schlange herrschte schlechte Laune, alle haben gestritten.“ Wie durch ein Wunder gibt es seit wenigen Tagen wieder Benzin. Nadine vermutet, dass Mursi die Benzin-Krise absichtlich verursacht habe. „Mursi wollte die Menschen von anderen Problemen ablenken und auch verhindern, dass sie zum Beispiel zum Tahrir-Platz fahren können, um dort gegen ihn zu demonstrieren“, sagt sie.

Nach dem Sturz des Präsidenten Mursi gab das Militär viel Geld für Feierlichkeiten aus. (Foto: Aicha El Edeissy)

Nach dem Sturz des Präsidenten Mursi gab das Militär viel Geld für Feierlichkeiten aus. (Foto: Aicha El-Edeissy)

Die Politik-Studentin befürwortet den Sturz Mursis durch das Militär, dennoch möchte sie dem Militär nicht blind vertrauen. „Ich habe Angst, dass die Leute sich zu früh gefreut haben“, sagt sie. Als besonders quälend empfindet sie die herrschende Ungewissheit. „Auf der einen Seite stehen die Muslimbrüder und auf der anderen das Militär. Doch wir wissen nicht, wer die Wahrheit sagt, wem wir vertrauen können.“

Muslimbrüder sperren Straßen

Vor Nadines Wohnung explodieren Gasbomben, es gibt Schießereien, unter einer Brücke wurde eine Bombe gefunden. Niemand weiß, von wem all das ausgeht, jeder beschuldigt die jeweilige andere Seite. Vor ein paar Tagen wollte sie zur Uni fahren, obwohl ihre Eltern es ihr verboten hatten. Auf ihrem gewohnten Weg wurde sie plötzlich angehalten. Muslimbrüder hatten einfach beschlossen, die Straße zu sperren. Ihr blieb nichts anderes übrig, als umzukehren.

Nadine hofft jetzt, dass eine faire Verfassung geschrieben wird, sodass das Land Schritt für Schritt eine demokratische Regierung bilden kann. Für die nächsten Tage möchte sie zu ihren Großeltern ziehen, die im ruhigeren Kairoer Stadtteil Zamalek leben. Da hat sie mal wieder Zeit, um durchzuatmen.

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