Quälerei am Klavier

Musik Machen als Schichtarbeit – die Mitarbeiter und Studierenden des Instituts für Musik und Musikwissenschaft der TU Dortmund stemmen heute ein echtes Mammutprojekt. 14 Stunden Klaviermusik, ohne Unterbrechung. Aufgeführt wird ein Stück des französischen Komponisten Eric Satie (1866 – 1925). Es trägt den Titel Vexations, zu deutsch „Quälereien“. Das Stück passt auf nur eine Seite, jedoch dauert die Aufführung des Stücks von acht Uhr morgens bis zehn Uhr abends. Das Geheimnis liegt in der Wiederholung: Insgesamt 840 Mal werden ein Thema sowie zwei Variationen gespielt.

Einer spielt, einer zählt, und das für jeweils 30 Minuten.

Einer spielt, einer zählt, und das für jeweils 30 Minuten.

Klar, dass dies kein einzelner Pianist schaffen kann. Deshalb machen sich gleich 30 Musiker daran, das Stück in voller Länge zu spielen. Jeweils für eine halbe Stunde gilt es, Saties Musik absolut gleichförmig klingen zu lassen, ohne sonst für Musiker typische Interpretationen des Notenmaterials. Es gibt keine Betonungen, das Tempo bleibt immer gleich, die Musik fließt einfach dahin. Ein Durchgang soll wie der andere klingen – was eine besondere Herausforderung für die Pianisten darstellt. Auch beim „Schichtwechsel“ darf es keine Unterbrechung geben: Die „Ablösung“ muss die ersten Noten im Stehen spielen, bis der Vorgänger den Klavierhocker geräumt hat. „Die ersten Töne des Stücks werden nur mit der linken Hand gespielt, so dass der Übergang nicht allzu schwer ist“, erzählt Christina Stahl, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Musik und Musikwissenschaft. Sie war die Erste, die um acht Uhr morgens am Klavier saß und den Klaviermarathon eröffnet hat. Das Projekt entstand durch ihre Idee. „Wir wollten zur Kulturhauptstadt beitragen, und zwar mit einem Projekt, das nicht Mainstream ist, wir wollten etwas Außergewöhnliches. Es war uns wichtig, ein Projekt zu machen, an dem viele Leute mitwirken können, Studierende und Dozenten, fernab vom täglichen Lern- und Prüfungsstress“.

Wandeln durch Kultur

Das Motto der Kulturhauptstadt – Wandel durch Kultur. Kultur durch Wandel – wird heute leicht verändert: „Wandeln durch Kultur“ sollen Studierende und Mitarbeiter, die auf dem Weg zur Vorlesung oder in die Mensa durchs Foyer der EF50 kommen. Denn genau dies war die Intention des Komponisten Eric Satie, als er das Stück um 1893 schrieb. Fernab von anderen Komponisten seiner Zeit wollte er mit den musikalischen Traditionen brechen und etwas schaffen, das nicht Kunst um der Kunst willen ist, sondern sich wie ein Teppich unter den Lauf des Alltags legt. So stört es überhaupt nicht, dass Zuschauer kommen und gehen und sich dabei auch noch laut unterhalten, die Musik soll nicht im Vordergrund stehen, sondern ein Teil des Hintergrunds werden. Satie bezeichnete seine Musik sehr treffend als Musique d’ameublement – Möbelmusik.

Diese vier Zeilen werden insgesamt 840 Mal gespielt.

Diese vier Zeilen werden insgesamt 840 Mal gespielt.

An diesem Projekt sind jedoch nicht nur die 30 Pianisten beteiligt – um einen Überblick zu behalten, wie viele Wiederholungen schon gespielt wurden, gibt es noch dreißig Leute, die per Strichliste den Fortschritt des Stückes dokumentieren, so dass man als Zuschauer immer weiß, wie weit das Stück bereits fortgeschritten ist.

Möbelmusik

Auch auf unerwartete Situationen muss schnell reagiert werden. So musste zwei Stunden nach Beginn des Stücks, um kurz vor zehn, das Klavier ausgetauscht werden, da es sich während der Nacht im Foyer durch die Kälte verstimmt hatte. „Wir mussten dies natürlich machen, ohne das Stück zu unterbrechen“, sagt Christina Stahl. Während die letzten Töne auf dem verstimmten Piano gespielt wurden, begann die „Ablösung“ bereits auf dem neuen Klavier zu spielen – im Stehen. „Wir mussten das Klavier dann noch an die richtige Stelle schieben, während das Stück ganz normal weiterlief“.

Aber woher kommt der doch eher ungewöhnliche Titel des Stücks? Trotz des Fehlens jeglicher Melodie und Harmonie quält das Stück seine Zuhörer eigentlich nicht, vielmehr hat es eine meditative Wirkung. Also muss der Musiker derjenige sein, der gequält wird. Das Stück sei relativ schwierig zu lesen, sagt Christina Stahl. „Und dies war auch Saties Absicht, deswegen der Titel Vexations. Manche Studierende haben sich für die Aufführung das Stück in eine besser lesbare Form umgeschrieben, obwohl das natürlich eigentlich nicht in Saties Sinne ist.“

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