Lange Nacht gegen „Aufschieberitis“

„Student müsste man sein“. Wie oft hört man diesen Satz aus neidvollen Mündern. Doch vor allem die vorlesungsfreie Zeit ist für die meisten Studenten eben nicht gleichbedeutend mit Urlaub oder durchzechten Nächten. Die vermeintlichen Semesterferien sind vor allem die Zeit für Hausarbeiten. Und da sich so mancher Student schwer damit tut, in seiner eigentlich freien Zeit wissenschaftliche Texte zu schreiben, fand am Donnerstag die „Lange Nacht des Schreibens“ statt. Auch die Ruhr-Universität Bochum (RUB) beteiligte sich.

Absolute Ruhe für die durchschriebene Nacht. Foto: Melanie Bröcker

Absolute Ruhe für die durchschriebene Nacht. Foto: Melanie Bröcker, Teaserfoto: pixelio.de / Rainer Sturm

Es ist dunkel. Der Bochumer Campus wirkt wie leergefegt an diesem windigen Donnerstagabend. Nur vereinzelt sind ein paar Studenten zwischen den Wohnheimen unterwegs. Zwei junge Frauen betreten mit Schlafsäcken bepackt das kleine „Euro-Eck“ hinter dem Hallenbad. Direkt hinter der Tür werden sie von einer lächelnden Frau im orangen T-Shirt begrüßt.

Mit den Worten „Herzlich Willkommen bei der langen Nacht des Schreibens“ drückt sie ihnen ein Namensschild und einen kleinen Button in die Hand. Katinka Netzer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bochumer Schreibzentrum.

Heute Abend ist sie mit ihren beiden Kolleginnen für die 40 schreibwütigen Studenten zuständig. Gemeinsam betreuen sie die „Lange Nacht des Schreibens“, die auch gern als „Lange Nacht gegen aufgeschobene Hausarbeiten“ bezeichnet wird.

Bundesweite Aktion gegen Prokrastination – „Aufschieberitis“

Die Aktion fand im vergangenen Jahr zum ersten Mal in Deutschland statt. War es 2010 nur die Uni Viandra in Frankfurt/Oder, die die Schreibnacht anbot, so konnten Studenten in diesem Jahr an immerhin sechs Universitäten gemeinsam über Nacht an ihren Hausarbeiten arbeiten. Über eine Live-Schalte im Aufenthaltsraum konnten die Studenten in Bochum zu jeder Zeit verfolgen, wie produktiv die Studenten in Darmstadt, Frankfurt/Oder, Göttingen, Bielefeld und Hildesheim waren.

Während im Nebenraum auf der weißen Leinwand die Bilder der Webcams flackern, betreten mehr und mehr Studenten das kleine „Euro-Eck“ im Bochumer Wohnheim. „Wir haben auch einen Ruheraum mit Kissen und Decken“, erzählt Katinka Netzer der nächsten Studentin, die den Flur betritt. „Oh gut. Da fange ich dann gleich mal an“, sagt die junge Frau und lächelt.

Große mediale Aufmerksamkeit

Etwas verunsichert sieht sie sich im Raum um, offensichtlich überrascht von den Kamerateams. Der WDR ist da und auch RTL. „Wir haben mehr mediale Aufmerksamkeit, als wir erwartet hatten“, sagt Netzer, der der verdutzte Gesichtsausdruck der Studentin nicht entgangen ist. Und tatsächlich sind um 20.30 Uhr (eine halbe Stunde nach offiziellem Beginn) noch mehr Journalisten als Studenten vor Ort. Doch das ändert sich im Laufe des Abends.

Schon eine halbe Stunde später bei der offiziellen Begrüßung ist der Aufenthaltsraum gut gefüllt. So gut, dass sich die Journalisten gegenseitig ins Bild rennen. Von Arbeitsvorbereitung kann dort für die Studenten noch keine Rede sein. Es wird gefilmt, fotografiert und um Interviews gebuhlt, was das Zeug hält.

Anspannung und Entspannung

Auch nachts kann man hoch konzentriert arbeiten. Foto: Melanie Bröcker

Auch nachts wird noch hoch konzentriert gearbeitet. Foto: Melanie Bröcker

Doch die 40 Studenten wollen heute Nacht noch mit ihren Hausarbeiten vorankommen. Deshalb machen sich die meisten schnell auf in die obere Etage. Dort ist der offizielle Arbeitsraum. Anspannung und Entspannung sind dadurch auch räumlich klar getrennt. Im Erdgeschoss sind die Küche, der Aufenthaltsraum und der Ruheraum untergebracht. Über den Eingangsflur führt eine Treppe hinauf zum Schreibraum.

Sprechen ist hier absolut verboten. Die Atmosphäre in dem Raum unter dem Dach erinnert stark an die in einem Lesesaal. Tische und Stühle sind die einzigen Möbel hier. Daran sitzen die Studenten mit ihren Laptops und Büchern. In diesem Raum sind sie geschützt vor Ablenkung und vor der Presse. Die einzige potenzielle Quelle der Ablenkung ist der Internetzugang, der für viele zum Arbeiten aber unabdingbar ist.

Gemütliche Atmosphäre

„Die Schreibnacht ist ein ziemlicher Gewaltakt“, sagt Ulrike Lange, ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin im Schreibzentrum. Anders als die Schreibwoche, die vor kurzem an der RUB stattfand, sei diese Nacht mehr ein Event. „Aber es kann ein guter Start sein oder helfen, tote Punkte beim Schreiben zu überwinden“, sagt Lange. Vor allem gefalle ihr die gemütliche Atmosphäre im Haus. „Gut, dass wir nicht im Unigebäude sind, da hätte ich Angst heute Nacht in dem hässlichen Betonklotz“, sagt sie und lacht. Denn genau darum gehe es: Schreiben angenehm machen.

Für alle die Startschwierigkeiten dabei haben, gibt es eine Anfangsübung. Doch bevor es damit losgehen kann, besorgt Katinka Netzer erst einmal ein paar Stifte. Denn der überwiegende Teil der Studierenden hat nur einen Laptop dabei. „Beim ,free writing‘ geht es darum, dass ihr einfach fünf Minuten lang schreibt. Egal was. Wenn euch nichts einfällt, dann schreibt ihr genau das auf“, erklärt Netzer die Übung. Damit soll jeder in einen natürlichen Schreibfluss kommen.

Anschließend bittet sie Studenten, eine Zielvereinbarung für den Abend festzulegen. Auf der aufgemalten Zielscheibe an der Pinnwand sollen die Karteikarten mit den gesteckten Zielen festgemacht werden. „Jedes Mal wenn ihr eine Etappe auf dem Weg zu diesem Ziel geschafft habt, macht ihr eine Pause und hängt eure Karte näher in die Mitte der Scheibe.“

Realistische Ziele setzen

Mit dem "free writing" sollen Anfangshürden überwunden werden. Foto: Melanie Bröcker

Mit dem "free writing" sollen Anfangshürden überwunden werden. Foto: Melanie Bröcker

Nachdem sie ihre Ziele festgesteckt haben, machen sich die meisten Studenten auf in den Arbeitsraum. Ein junger Mann bleibt zurück und blättert durch seine Notizen und Bücher. Tim studiert Sozialwissenschaften in Bochum und muss in einem Monat eine 15-seitige Hausarbeit abgeben. „Ich werde heute Abend nichts schreiben können. Mir fehlt einfach eine Struktur. Aber ich hoffe einen Anstoß zu finden.“

Ein paar Meter neben ihm sitzt Anglistikstudentin Stefanie. Doch sie hat die Nase nicht in Bücher vergraben. Mit geschlossenen Augen genießt sie eine Massage. Mit einer Hand am Nacken und der anderen an Stefanies Stirn lockert Birte Viermann fachmännisch die am Schreibtisch entstandenen Verspannungen.

Schreibblockade durch Verspannungen

Sie ist Praktikerin der „Grinberg Methode“ und hat sich spontan entschlossen, den Studenten kostenlos mit ihrer Arbeit das Schreiben zu erleichtern. Mit Studenten hat sie Erfahrung: „Ich habe sehr viele prokrastinierende Klienten, die so verspannt sind, dass sie auch eine Schreibblockade haben“, sagt Viermann.

Aus der Küche ziehen leckere Gerüche herüber. Die Schreibtutoren Hannah und Benny rühren die drei selbstgemachten Suppen auf dem Herd um: Kartoffelsuppe, Hühner-Nudeltopf und eine rote türkische Linsensuppe gibt es zur Stärkung. Kochen zählt nur heute Abend zu Hannahs und Bennys Aufgaben. Als Schreibtutoren sind sie im Semester Ansprechpartner für alle Fragen rund ums Schreiben. „Studenten kommen mit ihren Arbeiten zu uns, um eine Einschätzung zu bekommen oder um über den Aufbau ihrer Arbeit durchzudenken“, erklärt Benny. Korrekturen oder gar inhaltliche Hilfestellung geben sie allerdings nicht.

Einen Anfang finden

Auch geistige Arbeit macht hungrig. Foto: Melanie Bröcker

Auch geistige Arbeit macht hungrig. Foto: Melanie Bröcker

Während oben weiter fleißig geschrieben wird, gönnt sich Lena eine Pause bei einer Tasse Tee. Sie studiert soziale Arbeit an der Evangelischen Fachhochschule Bochum. Die Schreibnacht war für sie ein kleiner Durchbruch. „Ich finde schon seit zwei Monaten keinen Anfang.“ Ein Thema hatte sie schon, doch erst heute Nacht gelang es ihr, auch etwas zu Papier zu bringen.

„Es hilft, zu merken, dass es vielen so geht wie mir. Hier bin ich beim Schreiben nicht so allein“, sagt Lena und schaut schüchtern zu Boden. Trotz der Gemeinschaft arbeiten die Studenten konzentriert. Das hat auch die Kunstgeschichtsstudentin Sabrina gemerkt: „Wer hier jetzt nicht schreibt ist echt ein Exot und total fehl am Platz.“

Nachtspaziergang – oder viel Kaffee

Aber auch Pausen sind wichtig – und für die haben sich die Betreuer etwas einfallen lassen. Schreibtisch-Yoga, ein kleiner Nachtspaziergang und ein gemeinsames Frühstück um 5 Uhr morgens stehen auf dem Plan, um gut durch die schreibwütigste Nacht des Jahres zu kommen. Und wem die frische Luft beim Spaziergang nicht genügt, um wach zu bleiben, für den stehen bis zu zwei Kilo Kaffee bereit.

Auch am Freitag wurde noch einmal am Schreibtisch die Nacht zum Tag gemacht. Danach müssen die RUB-Studenten wieder in den eigenen vier Wänden an ihren Hausarbeiten schreiben. Zumindest bis zum nächsten Jahr…

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