Der Breitmaulfrosch: Aus dem Nähkästchen einer Kirchenorganistin

Beitragsbild: Helena Brinkmann

Ob Poetry-Invasion, Grüne Smoothies oder die hippesten Hipster-Klamotten – über Kunst, Lifestyle, Mode und Kultur lässt sich gut das Maul zerreißen. Ein chronischer Maulzerreißer ist der Breitmaulfrosch, der in dieser Kolumne merkwürdige Trends aufs Korn – und dabei kein Seerosenblatt vor den Mund nimmt. Heute geht es um einen allzu selbstverständlichen Beruf.

Kirchenorganisten haben es schwer. Nicht nur der Beruf, die Tätigkeit an sich bringt das mit sich: Sonntagsfrüh, Weihnachten, Ostern, Silvester, Neujahr arbeiten, wenn alle anderen frei haben, zum Beispiel. Sondern es ist vielmehr die Art, wie die Arbeit angesehen wird. Der erste Satz dieses Textes wird womöglich schon den ein oder anderen kurz hat stutzen lassen: Kirchenorganisten? – Oft reicht die Erwähnung schon, und ich werde mit großen Augen angeschaut. Ja, den Beruf gibt es, und ich übe ihn aus. Die Musik ist nicht einfach so da in der Kirche, es gibt jemanden, der sie macht. Auch wenn der Mensch, der jeden Sonntag und an den Feiertagen spielt, nie so wirklich beachtet wird. Der, wie ihn sich viele vorstellen, zottelig gekleidete, oft sonderbare, ältere Herr an diesem großen, lauten Instrument. Aber: Stimmt, den gibt es ja auch noch.

Wer Glück hat, bekommt als Organist eine Stelle und ein monatliches festes Gehalt für den – ist man kein Crack, der Bach oder längere Mendelssohns vom Blatt zockt oder richtig gut improvisieren kann, und will man nicht jeden Sonntag das gleiche spielen – Vollzeitjob. Wer Pech hat, arbeitet frei. Und bekommt für einen Gottesdienst knapp 40 Euro: den gesetzlich festgelegten Höchstsatz für ausgebildete C-Musiker in der evangelischen Kirche NRW. Während des Vorspiels, das man motiviert-mühsam vorbereitet hat, wird geredet. Gottesdienstbesucherin Frau Meier hat Herrn Eisenbrink* schon lange nicht mehr gesehen, weil der auf Malta im Urlaub war: „Herrgott, das klingt ja schön, war denn das Essen auch gut?“ Es wird zwar getuschelt, aber je nach Kirche hört der spielende Organist jedes Wort. Ja, ich hoffe auch, dass Ihnen Ihr Urlaubsessen geschmeckt hat. Draußen schüttet es, in der Kirche ist es kalt, man ist müde, verkackt eine schöne Stelle und ärgert sich.

Hektisches Blättern im Gesangbuch

Dann erklingt die heilige und ebenfalls noch müde Stimme des Pfarrers, der die Gemeinde begrüßt und die immergleichen Worte – „Wir feiern diesen Gottesdienst im Namen des Vaters, des Sohnes …“ – betet. Beim ersten Lied scheint die Gemeinde jedes Mal etwas aufzuschrecken. Was? Musik? Singen? Ich bin dran? Oh … Es wird hektisch geblättert. Der Musiker, der etwas ausgebuffter und routinierter dabei ist, improvisiert eben ein paar einleitende Takte, anstatt Ausnotiertes zu üben oder Kompliziertes vom Blatt zu spielen. Ist weniger Arbeit. Manche können es besser, andere weniger gut: „Hauptsache, das Tempo und die Tonart stimmen.“ Je nach Gemeinde singt dann trotzdem keiner mit. Man macht sich ein bisschen zum Affen.

Dieses Leben im Hintergrund, mit einem Job, dessen Ausübung als selbstverständlich wahrgenommen wird, ist auf der einen Seite abwechslungsreich und entspannend – und auf der anderen Seite ungeheuer frustrierend. Entweder, Organisten werden ob der nicht vorhandenen Wertschätzung ihrer Arbeit schludrig, oder sie werden zynisch. Musikalischer Zynismus klingt dann so: Bachs Es-Dur-Triosonate, eines der schwersten Stücke der gesamten Orgelliteratur, als Hintergrundmusik zum Abendmahl. Weil es eh niemand wahrnimmt, spielt der Virtuose es demonstrativ zu einem Zeitpunkt, an dem keiner ans Zuhören denkt.

Drei Grundakkorde

Schludrigkeit ist das andere Extrem: der Organist übt nicht mehr und stottert „Lobe den Herren“ wie ein Volkslied mit drei Grundakkorden vom Blatt. Interessant zudem: über die Musik wird meist nur gesprochen, wenn sie richtig mies war. Ist ein Organist raffiniert und probiert neue Klangfarben auf seinem Instrument aus, moduliert in den Zwischenspielen, versucht virtuose Läufe in die Gemeindebegleitung einzubauen, wechselt vielleicht gar einmal die Stilrichtung und macht ein bisschen Jazz oder Pop, ist ein anerkennendes Nicken oder ein „Danke, war nett!“ am Ausgang schon viel. Man freut sich den ganzen Tag darüber wie ein kleines Kind. Auch einmal passiert: „Da haben Sie aber heute die Ente rausgeholt! Hahaha!“ (Die „Ente“ war ein solistisch verwendetes Dulzian-Register mit näselndem Klang. Nach einem halben Jahr, in dem ich die Orgel kennengelernt hatte, traute ich mich, dieses Register solistisch zu nutzen und war vom Klang begeistert – und werde jäh in die Realität zurück geboxt, ernüchternd, mit diesem Kommentar.)

Das Ideal: ein schöner Gottesdienst mit schöner Musik

Ein Gottesdienst ist kein Konzert, nach dem dem Musiker applaudiert wird und er sich verbeugt. Das soll auch gar nicht so sein. Die Idealvorstellung ist ein schöner Gottesdienst mit schöner Musik. Der Organist dient dem, der da 60 Minuten lang gepriesen wird. Er stellt sich nicht selbst dar, als Musiker, als Virtuose oder als kreativer Kopf. Das ist auch okay so. Nur wird schöne Musik erwartet – und schöne Musik braucht Zeit und Arbeit. Genau wie eine gute Predigt auch Zeit und Arbeit braucht. Ein Organist, der seine Arbeit als nicht wertgeschätzt empfindet, ist wohl einfach nicht so tief im Gottesglauben drin, wie der, der das Gegenteil denkt. Es sei eine Berufung, eine Ehre, wurde mir in meiner Kirchenmusiker-Ausbildung mit heiligem Tremolo in der Stimme beigebracht, diese äußerst wichtige Aufgabe im Gottesdienst übernehmen zu dürfen. Achja?

Ich bin ehrlich: würde mir das Instrument nicht so viel Spaß machen, hätte ich die Gottesdienst-Orgelei wohl schon längst geschmissen. Und wären mir nicht die tuschelnde Frau Meier und der vom Urlaub braungebrannte Herr Eisenbrink irgendwie ans Herz gewachsen.

* Die Figuren sind fiktive Stellvertreter für Gottesdienstbesucher.

 

Beitragsbild: Helena Brinkmann

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