Arbeit für Mama Europa

Die Schweiz sagt ja zur Volksinitiative „gegen Masseneinwanderung“. Doch was sagt die EU zu der Abstimmung gegen geltende Verträge auf EU-Ebene? Und vor allem: Was sollte sie dazu sagen? Das fragt sich pflichtlektüre-Autorin Anna Kunz.

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Touristen ja, Einwanderer nein danke: Die Schweiz stimmt gegen die europäische Personenfreizügigkeit. Foto: Dr. Klaus-Uwe Gerhardt/pixelio.de, Teaser-Foto: Andrea-Damm/pixelio.de

Hält sich ein unerzogenes Kind nicht an die Regeln seiner Familie, hat das Konsequenzen. Je nach Schweregrad bedienen sich Mama und Papa im Bestrafungsrepertoire:  Liebesentzug, Ignoranz, Hausarrest oder Taschengeldkürzungen zum Beispiel. Verstößt ein erwachsener Bürger gegen geltendes Recht, muss auch er die Suppe auslöffeln: etwa ins Gefängnis gehen, Sozialstunden ableisten oder Strafe bezahlen. Genauso die Verantwortlichen eines Wirtschaftsunternehmens. Aber wie sieht es aus, wenn es sich bei dem Ausreißer um eine ganze Nation handelt? Und wenn die Familienregel  geltendes Recht auf europäischer Ebene  ist?

Eine gute, weil schwierige aber vor allem aktuelle Frage. Denn das ungezogene Kind heißt in diesem Fall nicht Kevin, sondern Schweiz. Genauer gesagt sind es 50,3 Prozent der Eidgenossen, die aktuell gegen die selbstdefinierte Masseneinwanderung in „ihr“ Land gestimmt haben. Ihnen ist gar Unglaubliches aufgefallen: Nicht jeder, der in die Schweiz kommt, tut das, um Ski zu laufen, Käsefondue zu essen, Kühe zu streicheln oder die neuen Wanderschuhe zu testen. Neben den gern gesehenen Touristen, die ihr sauer Verdientes  kofferweise zu Skiliftbetreibern, Hoteliers und Souvenirhändlern schleppen, gibt es auch die Ungewollten: Nicht-Schweizer, die bleiben. Und das über die Urlaubssaison hinaus!

So leben in der Schweiz beispielsweise rund 300.000 Deutsche. Überwiegend als qualifizierte Fachkräfte  – von Schweizer Unternehmen eingestellt – bringen sie das Know-how ihrer guten Ausbildung ein und nicht selten ihre Familien mit, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Soweit so schlecht, findet die Schweizerische Volkspartei (SVP), die zu dem Bürgerentscheid aufrief. Überlastete Infrastruktur, steigende Mieten und zu wenig Arbeitsplätze für die Schweizer: So sieht das von ihr beschrieben Szenario aus. Und vor dem scheinen sich einige gewaltig zu fürchten. So sehr, dass sie gegen die Einwanderung und damit gleichzeitig auch gegen geltende EU-Verträge  gestimmt haben. Zwar ist die Schweiz kein EU-Mitgliedsstaat. Trotzdem gibt es zwischen den beiden eine besondere Beziehung: ein bilaterales Vertragspaket, das auf der einen Seite den Binnenmarkt öffnet. Auf der anderen Seite muss die Schweiz die Personenfreizügigkeit anerkennen und ihre Grenzen für Einwanderer aus EU-Staaten öffnen. Aufgehoben werden dürfen die Verträge einzeln nicht.

Würde man versuchen, die aktuelle Entwicklung der Schweiz auf den adoptierten Kevin und seine Halbgeschwister zu übertragen, gäbe es folgendes Bild: Kevin hat sich entschlossen, ab sofort gegen eine Familienregel zu verstoßen. Zum Beispiel gegen die, dass er einen Euro mehr Taschengeld bekommt, wenn seine Schwester in seinem Zimmer Hausaufgaben machen darf. Aber Kevin fühlt sich in seinem Kinderzimmer eingeengt und schließt deshalb ab. Das Extra-Taschengeld aber will er natürlich nicht herausrücken. Schließlich ist das schon für eine neue Legostadt mit Skilift und Souvenirshop verplant.  Seine Geschwister finden das unfair und toben. Schließlich halten sie sich an die Regeln mit allen Vor- und Nachteilen. Jetzt liegt es also an den Eltern, ein Zeichen zu setzen. Dabei geht es auch darum, Kevin deutlich zu machen, wie weit er als Einzelkämpfer innerhalb der Gemeinschaft gehen darf. In erster Linie aber sollte die übergeordnete Instanz allen anderen Geschwistern zeigen, welche unangenehmen Konsequenzen ihr Fehlverhalten haben kann. Besser gesagt: Dass es welche hat. Wenn da nichts kommt, sind die gemeinsamen Regeln und Werte nichts mehr wert. Weil jeder eine Extrawurst bekommen kann, wenn er nur lange genug quengelt. Im Falle des Kevin, äh pardon, der Schweiz ist jetzt Mama Europa  am Zug.

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