Ost und West: Fürs Studium rüberwechseln

Wessis sind arrogant und eingebildet; Ossis jammern, sächseln und lieben FFK. Das sind die typischen Vorurteile, die sich auch noch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall hartnäckig halten. Viele Abiturienten lassen sich deshalb von einem Studium im jeweils anderen Teil Deutschlands abschrecken. Natalie und Simon haben sich trotzdem getraut.

Thüringerin im Pott: Natalie ist vom Osten in den Westen gezogen. Ihre Wurzeln hat sie aber nicht aufgegeben - genauso wenig wie ihren Dialekt.

Thüringerin im Pott: Natalie ist vom Osten in Westen gezogen. Ihre Wurzeln hat sie aber nicht aufgegeben - genauso wenig wie ihren Dialekt.

1999, zehn Jahre nach dem Mauerfall. Die Tageszeitung „Die Welt“ schreibt, dass „eine emotionale Vereinigung der ost- und westdeutschen Hochschullandschaften noch nicht in Sicht“ ist. Im Auftrag des Bundesbildungsministeriums befragten Sozialwissenschaftler der Universität Koblenz damals 9000 Studierende. Heraus kam, dass „mehr als die Hälfte der Befragten nicht an Kontakten zu Kommilitonen aus dem jeweils anderen Teil Deutschlands interessiert“ seien. So wollten mehr als die Hälfte der Ossis und fast 60 Prozent der Wessis keinen weiteren Kontakt über die ehemalige deutsch-deutsche Grenze. Wer trotzdem für das Studium aus dem Westen in den Osten zog, der tat dies meist unfreiwillig: Zum Beispiel dank der zentralen Studienplatzvergabe oder wenn es den gewünschten Studiengang nur „drüben“ gibt.

Im Sommer 2008, knappe 19 Jahre nach dem Mauerfall, stand Natalie Klinger vor genau diesem Problem. Die 20-Jährige aus Gotha (Thüringen) muss sich entscheiden: Traumstudium antreten und in den Westen ziehen? Oder lieber an einer ostdeutschen Universität einschreiben? Heute studiert Natalie Journalistik und Englisch im dritten Semester an der TU Dortmund. Notgedrungen, könnte man sagen. Denn sie wollte lieber im Osten bleiben, in Leipzig studieren. „Schon allein wegen der nicht vorhandenen Studiengebühren und meinem Vorurteil, dass die Ostdeutschen lockerer sind als die Westdeutschen“. Aber in Leipzig wurde mit dem Bologna-Prozess der Diplomstudiengang abgeschafft und nur der M.A. Journalistik eingeführt. „Mir blieb gar nichts anderes übrig, als nach Dortmund zu ziehen“, sagt Natalie heute.

Nur die Wenigsten wollen im Osten studieren

Zwanzig Jahre nach dem Mauerfall berichtet „Die Welt“ wieder über das Verhalten von Studierenden aus Ost- und Westdeutschland. Darin heißt es, dass laut einer bundesweiten Umfrage der Hochschulinitiative Neue Bundesländer nur 22 Prozent der ostdeutschen Abiturienten im Westen studieren wollen. Über die Hälfte hingegen (54 Prozent) wollen im Osten bleiben. Noch drastischer fällt die Meinung westdeutscher Schüler aus.  Zwar rechnen 62 Prozent von ihnen damit, dass sie zum Studieren die Heimat verlassen.  Aber nur fünf Prozent aller befragten Westdeutschen würden auch gern in ostdeutschen Ländern studieren.

Nostalgisch: Simon auf den Spuren der DDR.

Nostalgisch: Simon auf den Spuren der DDR.

Einer, der unter diese fünf Prozent fällt, ist Simon Preis.  Als er sich vor zwei Jahren für ein Studium entscheiden musste, kam für ihn auch der Osten in Frage. „Ich war sehr aufgeschlossen, wäre wahrscheinlich überall hingezogen“, sagt Simon. Und so kam es dann auch.  Für seinen Studienwunsch „Verkehrsingenieurwesen“ zog er von Wuppertal nach Dresden. Denn nur dort gibt es einen solchen Studiengang. Das sei aber auch der einzige Grund für den Wechsel in den Osten gewesen, betont der 22-jährige. Mittlerweile hat er aber auch andere Vorteile am Studienleben im Osten gefunden. „Wir bezahlen keine Studiengebühren, die Wohnungen sind etwas billiger und die Dienstleistungen auch“.

Zufriedenere Studenten im Osten

Gute Noten bekommen Ostdeutsche Hochschulen auch von Bildungsexperten. Sie loben den häufig persönlichen Kontakt zwischen Hochschullehrern und Studenten, das gute Betreuungsangebot und die gute Ausstattung. Das spiegelt sich auch bei den Studenten wieder. So ergab eine Umfrage des Hochschul-Informations-Systems (HIS) im Jahr 2008, dass die Zufriedenheit an ostdeutschen Universitäten deutlich höher ist. Demnach sind 66 Prozent der Studierenden im Osten zufrieden. Im Westen sind es nur 52 Prozent. Trotz dieser Ergebnisse herrscht in vielen Köpfen der westdeutschen Abiturienten noch das Bild vom alten, maroden, armen und grauen Ostdeutschland.

Simon hingegen sagt, keinerlei Vorbehalte gegenüber dem Osten gehabt zu haben. Im Gegenteil: Schon vor seinem Studium war der Wuppertaler einige Male dort untwegs, kannte dadurch  schon viele Städte. Er lernte auch von den Erfahrungen seines Bruders, der von der Zentralen Vergabestelle nach Magdeburg geschickt wurden war. Außerdem war er schon immer sehr an der Geschichte Deutschlands und der Teilung interessiert, hatte sogar als einer der wenigen Westdeutschen eine Simson. „Dadurch hatte ich an meiner Schule in Wuppertal schon den Spitznamen ‚Ossi‘ weg“, sagt Simon. Er findet es wichtig, selbst Erfahrungen zu sammeln und sich nicht die Meinung anderer zum Thema Ost-West aufdrücken zu lassen. „Erst dann kann man sich ein wirkliches Bild von Ostdeutschland und den Ostdeutschen machen“.

Dialekt als Markenzeichen statt Makel

Das hatte auch Natalie nötig. Sie wurde kurz vor der Wende geboren. Ihre Familie und Freunde sind alle in der DDR aufgewachsen und hatten ein ganz bestimmtes Bild vom Westen. Diese Einstellungen, so erzählt Natalie, wurden auch an sie weitergetragen. „Natürlich bekam ich bestimmte Klischees vermittelt. Zum Beispiel das Bild von den arroganten Wessis, den Arschlöchern. Aber bevor ich hier her gekommen bin, war ich gezwungen, diese Klischees in meiner Vorstellung zu töten. Einfach, weil ich mir hier in Dortmund ein neues Leben aufbauen wollte. Dabei wären diese Vorurteile nicht förderlich gewesen.“

Mittlerweile hat sich Natalie gut in Dortmund eingelebt. „Mir wurde es nicht leicht gemacht, aber auch nicht schwer“, erinnert sie sich. Das hänge ihrer Meinung nach aber nicht davon ab, aus welchem Teil Deutschlands eine Person stammt, sondern von der Verhaltensweise einzelner und der Zugehensweise auf die Ruhrpottler. „Und gerade die sind ja sehr offen“, sagt die Studentin. Sprüche über ihre Herkunft bekommt Natalie aber trotzdem immer mal zu hören. „Aber nur, weil sich manche Menschen besonders lustig finden und ich mit meiner Aussprache auch super Steilvorlagen liefere. Ich sage nur „Gewörzgorken“ (Gewürzgurken).“

Von den Freunden schief angeguckt

Der Blick auf die andere Seite: Auch 20 Jahre nach dem Mauerfall wagen ihn nur wenige Studenten. Natalie wurde sogar von ihren Freunden schief angeguckt, weil sie im Westen studiert. Foto: belobos/ stock.xchng

Der Blick auf die andere Seite: Auch 20 Jahre nach dem Mauerfall wagen ihn nur wenige Studenten. Natalie wurde sogar von ihren Freunden schief angeguckt, weil sie im Westen studiert. Foto: belobos/ stock.xchng

Alles in allem hat Natalie ihren Umzug in den Westen nicht bereut.  Zwar sei Dortmund nicht die schönste Stadt, aber dafür punktet das Studium. „Wenn das Spaß macht, dann spielt die Umgebung für mich nur eine untergeordnete Rolle“. Auch Simon fühlt sich in Dresden richtig wohl. „Ich fahre auch nur einmal im Semester nach Hause. Mehr ist nicht nötig. Mein Freundeskreis ist jetzt in Dresden.“

Zwar haben es Natalie und Simon geschafft, die gedankliche Mauer zu überwinden. Trotzdem werden sie immer wieder mit ihr konfrontiert. „Als meine Freunde von meiner Entscheidung, ein Studium in Dresden anfangen zu wollen, hörten, fragten sie: Wie kannst du nur in den Osten ziehen?“, erinnert sich Simon. Und auch Natalie kennt solche Reaktionen. Erst neulich habe sie eine Freundin angerufen, die in Jena studiert und dort auch auf Studenten aus dem Westen trifft. „Sie meinte, wie hälst du es nur dort drüben aus. Die Wessis sind doch total arrogant“. Für Natalie sind die Teilung Deutschlands und die gegenseitigen Vorurteile noch immer in den Köpfen drin. „Auch in der Generation, die kurz vor der Wende geboren ist und die Teilung eigentlich nicht mehr bewusst miterlebt hat“. Simon denkt, dass diesen Denken von Generation zu Generation abnehmen wird.

Belohnung für das Leben im Osten

Dazu sollen auch zahlreiche Werbekampagnen beitragen. Eine davon ist die Aktion „Studieren in Fernost“, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit insgesamt zehn Millionen Euro gefördert wird. In kleinen Videoclips werden die 44 Fachhochschulen und Universität der neuen Bundesländer vorgestellt. Dadurch sollen mehr Abiturienten an ostdeutsche Hochschulen gelockt werden.  Denn dort gehen die Studentenzahlen zurück.  Die Lücke, die in einigen Jahren durch zu schwache Geburtenjahrgänge und somit einer geringeren Zahl von Studienanfängern klaffen wird, soll dadurch geschlossen werden. Gleichzeitig will man, dass die Hochschulen in Westdeutschland entlastet werden.

Eine andere Lockstrategie gibt es in Potsdam. Wer aus einem anderen Bundesland als Berlin oder Brandenburg an die Uni kommt, erhält eine Mobilitätsprämie – und zwar eine Bahncard 50 für ein Jahr kostenlos. Vielleicht helfen ja solche finanziellen Anreize, dass noch mehr Studenten dem Beispiel von Natalie und Simon folgen: Vorbehaltlos in jeder Ecke Deutschlands ein Studium aufzunehmen.

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