Die Not machte sie erfinderisch – Comics im KZ

Theresienstadt 1944

Wie male ich ein Bild, ohne überhaupt einen Stift zu haben? Wie bekomme ich Papier, in einem Gefängnis, in dem ich allein für den Versuch, es zu beschaffen, bestraft werden könnte? Und wenn ich es nun fertig gemalt habe, wie sorge ich jetzt dafür, dass ich nicht für das, was darauf zu sehen ist, erschossen werde? All das waren Fragen, die sich Künstler in Konzentrationslagern stellen mussten, bevor sie mit dem Zeichnen begannen.

„Es war unglaublich schwierig, die Bilder zu verstecken“, sagt Jörn Wendland, der als Kulturhistoriker Zeichnungen von Opfern aus Konzentrationslagern erforscht. „Manche haben die Bilder Mithäftlingen gegeben oder haben sie eingemauert. Die meisten sind verschwunden – oder auch gar nicht erst entstanden.“ Comics zu zeichnen, war eine Beschäftigung, die Künstler während des Holocaust als Ausdrucksweise nutzten. Wendlands Spezialgebiet sind sogenannte narrative Bildserien. Dabei haben die Häftlinge versucht, in mehreren Bildern zu zeigen, was bis heute schwer zu fassen ist: das Leben im KZ. Viele der Werke haben den Krieg nicht überstanden. In seinem Buch „Das Lager von Bild zu Bild. Narrative Bildserien von Häftlingen aus NS-Zwangslagern“ stellt Wendland 15 Künstler vor, die während ihrer Gefangenschaft Bildserien erschufen. 

„Der mögliche Tod spielte immer eine Rolle“

Jörn Wendland

Der Kulturhistoriker Jörn Wendland beschäftigt sich mit Comics, die in den KZs entstanden sind. Foto: joernwendland.de

Die Bilder haben viele Motive. Manchmal zeigen sie eher alltägliche Situationen, wie Essensausgaben oder einen Appell, bei dem die Gefangenen gezählt werden. Hin und wieder gab es auch Versuche, ein wenig der Realität zu entfliehen: Bilder, auf denen das KZ wie ein nettes Ferienlager aussieht, in dem Kinder sorglos spielen können. Dabei wurden die Künstler und Künstlerinnen sehr kreativ, denn normale Stifte und Papier gab es eher selten im Lager. Ein kleiner Junge malte seine kindlichen Zeichnungen zum Beispiel auf der Rückseite von Krankmeldungs-Formularen der SS. Ein kleines Mädchen mischte – mangels dunkler Farbe – ein wenig Dreck mit Wasser, um damit Zeichnungen von alltäglichen Situationen im Lager anzufertigen.

Der Kern des Holocausts, das systematische Töten von Millionen Menschen, wird in vielen der Werke nur angedeutet. Trotzdem habe der mögliche Tod immer eine Rolle gespielt, sagt Wendland: „Viele fanden es schwierig, den Moment des Todes darzustellen. Sie bedienten sich lieber einer narrativen Lücke oder auch am Sarkasmus.“

Weihnachten im KZ – die Metamorphose eines Häftlings

So auch Pavel Fantl. Der jüdisch-tschechische Arzt kam im Juni 1942 mit seiner Frau, seiner Mutter und seinem Sohn in das Getto Theresienstadt. Während seiner Zeit dort zeichnete er viel. Häufig waren es Bilder mit einem satirischen Kern. Eines seiner Werke handelt von der Metamorphose eines Häftlings während seiner Zeit im Lager. Es zeigt ihn auf mehreren Bildern immer in der gleichen Haltung, immer am gleichen Tag im Jahr, an Weihnachten. Es gibt verschiedene kleine Elemente in jedem Bild, die sich Stück für Stück verändern: die Kleidung wird immer zerrissener, die Bettwäsche immer dünner und der Mann immer magerer – einzig Nase und Ohren bleiben immer gleich.

Pavel Fantl „Metamorphose“

Das letzte Bild stellt die Zukunft dar. „So Gott will“ steht ironisch darunter geschrieben. Wenn Gott es zulässt, wird der abgebildete Mann also auch an Weihnachten 1944 noch da sein, bis dahin möglicherweise so abgemagert, dass kaum noch etwas von ihm übrig ist. Trotzdem sieht er dem langsamen körperlichen Zerfall und schließlich dem Tod mit erhobenem Haupt entgegen. Kulturhistoriker Wendland sieht im Sarkasmus einen einfachen Zweck: „Damit behält er seine Würde – er lacht dem Tod gewissermaßen ins Gesicht“, erklärt er. Pavel Fantl selbst erlebte diesen Weihnachtstag im Jahr 1944 tatsächlich noch. Im selben Jahr wurde er in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert und im Januar 1945 von der SS auf einem Todesmarsch in Niederschlesien erschossen.

Lager in der NS-Zeit
Während der NS-Zeit war das gesamte Deutsche Reich von einem dichten Netz aus Inhaftierungslagern übersät. In ihnen wurde jeder potenzielle Gegner der Nazi-Ideologie gefangen gehalten, zur Arbeit gezwungen oder sogar getötet. Man unterscheidet sie durch den Zweck, den sie für das Regime erfüllen sollten. So gab es Gettos, Kriegsgefangenenlager, Arbeitslager und Vernichtungslager. Zu den heute bekanntesten gehören das Getto Theresienstadt und das Konzentrationslager Auschwitz.
Getto Theresienstadt
Das Getto Theresienstadt (heute: Terezín) liegt in der Nähe von Prag. 1941 wurde das Getto unter dem Vorwand errichtet, die Bewohner konnten dort frei leben und regelmäßig nach Hause fahren – viele Juden meldeten sich damals freiwillig. Tatsächlich diente das Lager als Sammelstelle für Jüdinnen und Juden, die nach einiger Zeit in andere Lager deportiert wurden. Beispielsweise in das Konzentrationslager Auschwitz.
Auschwitz
Das Lager in Auschwitz bestand aus drei Teilen. Im Lager Auschwitz I fand die „Verwaltung“ der Gefangenen statt. Besonders bekannt ist hier die Aufschrift „Arbeit macht frei“, die über dem Eingang zu sehen ist. Hier wurde bestimmt, wer arbeiten konnte und wer direkt in das Lager Auschwitz II Birkenau gebracht wurde. Dieser Teil des Lagers wird als Vernichtungslager bezeichnet. Durch Vergasung und Erschießungen wurden hier etwa eine Million Menschen ermordet. Das dritte Lager, Auschwitz III Monowitz, war ein Zwangsarbeitslager.

Die allgegenwärtige und dennoch nur angedeutete Präsenz des Todes zeigt, wie gefährlich allein das Zeichnen in den Lagern war. Noch dazu, wenn das Ergebnis eine Serie von Bildern war, in der das Elend und die Grausamkeiten, die die Menschen in den Lagern ertragen mussten, abgebildet wurden. „Es gab Beispiele, wo Künstler und ihre Werke entdeckt wurden“, erklärt Wendland, „das wurde bestraft: Manche wurden deportiert, getötet oder sie mussten noch härter arbeiten.“

Essen aus einem Fingerhut – der Hunger beherrschte das Leben in den Lagern

Um ihre Werke zu schützen, taten sich die Gefangenen oft zusammen. Genau wie Pavel Fantl, der in seiner Zeit in Theresienstadt mit fremder Hilfe rund 80 seiner Werke hinausschmuggeln konnte, oder Erich Lichtblau-Leskly. Mit seiner Frau Elsa lebte Erich Lichtblau-Leskly von 1942 bis 1945 im Getto Theresienstadt. Er erschuf während seiner Zeit dort eine Serie von – wie er es selbst bezeichnete – „tragikomischen“ Bildern, die den Alltag im Getto zeigten.

Zum Beispiel das Bild „Zusatzportiönchen“. Ein abgemagerter Gefangener steht bei der Essensausgabe. Seine winzige Portion wird ihm mit einem fingerhutgroßen Löffel gegeben. Das Essen besteht aus vier kleinen Tropfen einer wässrig aussehenden Brühe. Schaut man genau hin, sieht man ein farbenfrohes, aus zwei Schnipseln bestehendes Bild, das erst zusammengelegt ein sinnvolles Motiv zeigt. Karikaturhaft zeigt es eine Szene, wie sie vielleicht jeden Tag in den NS-Lagern zu sehen war. Um das Bild davor zu schützen, bei Durchsuchungen entdeckt zu werden, teilten es Erich in mehrere Stücke und versteckten diese gemeinsam mit seiner Frau an verschiedenen Orten. Einige davon sind offensichtlich verloren gegangen.

Erich Lichtblau-Leskly „Zusatzportiönchen“

Das Paar überstand den Krieg im Lager und wurde im Mai 1945 befreit. Auch später noch widmeten sie sich der Kunst und stellten die Werke aus, die sie aus den Lagern mitnehmen konnten. Erich Lichtblau-Leskly starb im Alter von 93 Jahren in Tel Aviv.

Die Werke von Pavel Fantl und Erich Lichtblau-Leskly gehören zu einigen wenigen, die es tatsächlich geschafft haben, die NS-Herrschaft zu überstehen. Die Künstler nahmen für die Bilder große Risiken auf sich, obwohl viele jeden Tag fürchten mussten, den nächsten nicht mehr zu erleben.

Was genau in den Lagern vor sich ging, war der Bevölkerung oft unbekannt

Wie groß diese Risiken waren, lässt sich an der sogenannten „Affäre der Theresienstädter Maler“ erahnen. Im Getto gab es einen Zeichensaal, in dem Gefangene Zeichnungen im Auftrag der NS-Führung anfertigten. Auch neben ihren Pflichten zeichneten sie Bilder, die das Leben im Lager zeigten. In Theresienstadt gab es Möglichkeiten, Kontakte zu Verwandten und Freunden nach außen zu pflegen. So gelang es den Künstlern, einige ihrer Bilder bis in die Schweiz schmuggeln zu lassen, wo sie aber in die Hände der Nazis gelangten. Die Künstler der Werke wurden bald identifiziert und bestraft. Zwei wurden getötet und weitere nach Auschwitz deportiert: allein für das Zeichnen von Motiven aus dem Getto in Theresienstadt.

Warum die Häftlinge trotzdem zeichneten, ist einfach und gleichzeitig erschreckend: Es war eine Zeit, in der die Gleichschaltung der Medien und die ständige antisemitische Propaganda dafür sorgten, dass die normale Bevölkerung manchmal nur erahnen konnte, was in den Lagern vor sich ging. Den Gefangenen selbst wurde die grausame Realität teilweise erst bewusst, als es bereits zu spät war. Neben dem Versuch, den Lageralltag durch bunte Bilder etwas zu erleichtern, waren manche Bilder laut Jörn Wendland dadurch motiviert, wenigstens andeutungsweise festzuhalten, was die Opfer der Nationalsozialisten ertragen mussten. Niemand weiß, wie viele dieser Bildserien in den Lagern entstanden sind. Die meisten von ihnen sind, genau, wie ihre Künstler, dem Holocaust zum Opfer gefallen.

Vortragsreihe

Jörn Wendlands Vortrag ist Teil der Vortragsreihe Holocaust in Kunst, Kultur und Medien, organisiert von der Ruhr Universität Bochum.
Während des Vortrages stellte er Teile seiner Forschungsergebnisse vor, die in seinem Buch Das Lager von Bild zu Bild. Narrative Bildserien von Häftlingen aus NS-Zwangslagern zusammengefasst sind. Weitere Informationen zum Programm gibt es hier.

Bild 1: Portrait Jörn Wendland / joernwendland.de

Beitrags-, Teaserbild und Bild 2 im Beitrag: Pavel Fantl „Metamorphose“, Theresienstadt 1944, © Sammlung des Yad Vashem Art Museum, Jerusalem

Bild 3: Erich Lichtblau-Leskly „Zusatzportiönchen“ © Mit freundlicher Genehmigung von Mira Oren

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