Ab auf den Acker

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Ein Feld, 66 Menschen – geteilte Verantwortung. Die solidarische Landwirtschaft stellt den Kapitalismus auf den Kopf, zumindest auf einem Hof im ländlichen Dortmund-Derne. Dort bewirtschaftet seit 2013 eine bunt zusammengewürfelte Gruppe Menschen ein Feld. Sie teilt sie sich Ernte, Kosten und Risiko für einen Hof in der Region. Ein Besuch in Dortmund-Derne im Sommer 2016.

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Die Ochsenherz-Tomaten, die Jörg (links) und Peter geerntet haben, sind besonders aromatisch.

In dem tunnelförmigen Gewächshaus reiht sich eine Tomatenpflanze an die nächste. Dünne Seile weisen den grünen Stielen den Weg in Richtung Himmel. Schulsozialarbeiter Peter, schlaksig, Fast-Glatze, Brille, steht dazwischen. Er bückt sich, greift nach den runden Früchten, tastet die Tomaten ab. Viele noch grün, einige schon knallig rot. Andere werden nie rot, sondern gelb oder violett. Im vergangenen Jahr bauten die Solawi-Mitglieder 15 verschiedene Sorten an, aber da verliert man schnell den Überblick, weiß Jörg, der als Pädagoge auf dem Lernbauernhof von Elmar Schulze-Tigges arbeitet und auch bei den Solawis ist. Auf dem Gelände des Lernbauernhofs befindet sich das Feld des Vereins. Verteilt auf zwei Gewächshäuser wachsen dieses Jahr insgesamt fünf Sorten. Darunter fleischige Ochsenherz- und zierliche Cocktailtomaten. Allesamt verbreiten einen intensiven Duft. Eine Mischung aus Sommer und Erde.

Es ist Freitagmorgen, Erntetag auf dem Hof Schulze-Tigges. Dort bewirtschaftet der Verein Solawi ein 0,6 Hektar großes Feld. Zum Verein gehört die Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaft, kurz EVG. Peter ist eines der 66 Mitglieder.

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Erlas Aufgabe ist es, die Erdklumpen von den Frühlingszwiebeln zu lösen und ein Gummiband drum zu binden.

Ebenso wie Förderschullehrerin Barbara, die am Erntetag mit anpackt. Sie geht die Reihe mit Lauchzwiebeln ab, sucht reife Exemplare. Mit einer Schippe gräbt sie die Pflanzen aus und reicht sie weiter an ihre Tochter Erla. Das Mädchen im Grundschulalter klopft die soeben aus der Erde gezogenen Lauchzwiebeln ab. Sie zieht einen Erdklumpen nach dem anderen von der Wurzel. Dann bindet sie ein Gummiband um die Zwiebeln und wirft den Bund in die orange Ernte-Kiste. Ihr Blick wandert immer wieder zur Straße, sie wartet auf die anderen Kinder. 66 Bünde kommen hinterher zusammen, für jedes Mitglied einen.

Was bedeutet Solawi?
Solawi steht für solidarische Landwirtschaft – dabei geht es um die gemeinschaftliche Förderung regionaler Nahrungsmittel-Produktion. Und um die möglichst ortsnahe Verteilung der Lebensmittel: Ohne Umwege wie Großhändler und Supermärkte gelangt das in Dortmund-Derne produzierte Gemüse direkt vom Erzeuger zum Verbraucher. Die EVG finanziert den Gemüseanbau durch die Mitgliedsbeiträge, hilft bei der Ernte und anderen Aufgaben und teilt sich die Erträge.
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Brigitte kommt ein- bis zweimal in der Woche aus Bochum zum Feld in Dortmund-Derne.

Die Erzeuger-Gemeinschaft hat einen hauptamtlichen Gärtner engagiert, der bestimmt, welche Gemüsesorten angebaut werden, die Pflanzen pflegt und den Hobby-Gärtnern ansonsten alle Fragen zu Anbau und Ernte beantwortet. Weil der allerdings krank geworden ist, gibt es an diesem Erntetag mehr für die Mitglieder zu tun. Während Barbara Frühlingszwiebeln aus der Erde zieht, ist Brigitte – kurze blonde Haare, oranger Pulli – weiter hinten auf dem Acker allein mit dem Rettich beschäftigt. Die Einzelhandelskauffrau hat vor einem Jahr ihren Mann verloren und kommt gut ein- bis zweimal in der Woche von Bochum nach Dortmund-Derne. Immer dann, „wenn ihr wieder mal das Dach auf den Kopf fällt“. Dann rupft sie Unkraut oder erntet kiloweise Rettich. Oder kommt in der Zigarettenpause mit anderen Hobby-Gärtnern ins Gespräch.

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Manfred ist Maschinen-Schlosser in Rente – und bei den Solawis überwiegend für technische Fragen zuständig. Oder auch mal für den Transport der Ernte zum Hof.

Während die meisten auf dem Feld beschäftigt sind, beraten sich Manfred und Elmar am anderen Ende des Ackers über die Wasserversorgung. Das Wasser kommt aus dem Brunnen, fließt durch Schläuche, die auf der Erde liegen und gelangt durch winzige Löcher nach draußen. Tröpfchenbewässerung nennt man diese Art der Bewässerung. Manfred, seit eineinhalb Jahren Vollrentner, ist eigentlich Maschinenschlosser. Er nennt sich selbst technischer Berater der Truppe, betreut scherzhaft die Technik-AG, deren einziges Mitglied er ist. Die Arbeit auf dem Feld mag er gar nicht so, lieber repariert er Dinge. Wie zum Beispiel das Fahrrad, mit dem er die Dutzende Kilogramm schwere Ernte zum Hof transportiert, und dessen Anhänger sich jetzt nach und nach mit Kisten voller Gemüse füllt.

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Hännes überprüft den frisch angelegten Pflanzstreifen.

Unterdessen kümmert sich Hilfsgärtner Hännes mit zwei weiteren Helfern um den Chinakohl. Das Feld ist aufgeteilt in Reihen. Jede Reihe ist zwischen 48 und 55 Meter lang und zirka einen Meter breit. Die Solawis knien vor einer Reihe und graben die Erde um, dann kann sie besser atmen. Außerdem ist es so einfacher, den Chinakohl einzupflanzen – die grün-gelblichen, länglichen Pflanzen liegen schon in Kisten auf dem Feldweg bereit. Mit einem Reihenzieher geht Hännes dann das Feld ab. Mit diesem Gerät kann er Furchen in die Erde ziehen, die individuell von der Breite her einstellbar sind. Die ideale Breite ist nämlich von Pflanze zu Pflanze unterschiedlich: In drei Furchen wird mithilfe einer Messlatte jeweils alle 27,5 Zentimeter ein Chinakohl eingepflanzt und anschließend gegossen.

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Das feinmaschige Laken soll den jungen Chinakohl vor Fressfeinden schützen.

Doch ohne Schutz wollen die Solawis die jungen Kohlpflanzen nicht lassen. Hännes und zwei freiwillige Helfer verlassen ein Gewächshaus mit einem unhandlichen Haufen weiß-transparenten Plastiks, gesäumt von Erd- und Schmutzresten. Denn nicht nur das Unkraut macht den Nutzpflanzen zu schaffen – Schnecken, Insekten, ganz besonders der Kohlweißling, ein kleiner weißer Schmetterling, sind auf den Feldern in Dortmund-Derne unterwegs. Hännes und Co. breiten die Plane über den Feldweg aus – sie müssen erstmal herausfinden, welche Seite die längliche ist. Nach einem kurzen hin und her auf dem Feldweg breiten sie die Plane über das neu angelegte Feld aus und befestigen sie mit Steinen. Nun kann der Kohl geschützt wachsen.

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Der viele Regen im Frühsommer hatte das Unkraut extrem sprießen lassen. Inzwischen haben die Solawis das Feld wieder hergerichtet.

Vor einigen Wochen sah der Acker noch nicht so ordentlich aus. Unkraut soweit das Auge reicht. Schuld war eine Misskalkulation: Die große Anbaufläche bereitete zu viel Arbeit für zu wenig Arbeitskräfte, dazu kam der viele Regen. Das Unkraut wuchs und wuchs und überwucherte die jungen Nutzpflanzen. „Dann haben wir einen Aufruf gestartet im Verein und zum Unkraut jäten eingeladen“, sagt Jörg. Die Leute kamen in Scharen. Jeden Tag war jemand da, um die gewollten von den ungewollten Pflanzen zu befreien. Pflanzengifte kommen für die Solawis nicht in Frage, denn ökologische und biologische Landwirtschaft bedeutet, nur maschinell oder per Hand zu arbeiten, niemals chemisch.

Wie ist das Konzept der Solidarischen Landwirtschaft entstanden?
Die Idee stammt aus Japan: Seit den 1960er Jahren bestehen dort solidarische Partnerschaften zwischen Bürgern und Landwirten. Es gingen noch einige Jahre ins Land, bis das Konzept auch in Deutschland Anhänger fand: In den späten 80ern wurde die erste Initiative gegründet, im Jahr 2013 gab es deutschlandweit 13 Vereine. Ein Jahr später starteten die Dortmunder durch – als erste Initiative im Ruhrgebiet, wie Landwirt Elmar Schulze-Tigges betont. Mittlerweile gibt es mehr als 100 Gruppen in ganz Deutschland.
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In einer Deele wird das Gemüse aufgestellt und sortiert.

Am frühen Nachmittag ist der Fahrrad-Anhänger mehr als voll, ein gutes Dutzend Kisten mit Tomaten, Kohl, Rettich und Co. machen das Fahrrad doppelt so lang. Manfred strampelt die Ladung zum Hof. Ziel ist eine alte Deele, „Abholraum“ steht in weißer Schrift auf dem grünen Tor. Innen sind links und rechts bis zur Decke leere Kisten gestapelt, ein paar Heuballen und Besen liegen herum. Das Licht ist spärlich. Die Helfer hieven die 30 Gemüse-Kisten in Regale. Brigitte sortiert die ersten Anteile: „340 Gramm Mangold, 240 Gramm Tomate, 2 x Rettich, 2 x Rote Beete, 1 Lauchzwiebel, 1 Spitzkohl, 1 Zucchini“ hat jemand anderes zuvor mit Kreide auf eine Tafel geschrieben. Das alles erhält jeder der 66 Anteilseigner an diesem Freitag. Einige Mitglieder nehmen nur einen halben Anteil, für einen Ein-Personen-Haushalte reicht das dicke.

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Der Ertrag einer Woche: In guten Zeiten reicht das Gemüse für eine kleine Familie.

Davor die Woche gab es Küchenkräuter und Kopfsalat, dafür aber keine Tomaten und Lauchzwiebeln. Auf einer Waage wiegt Brigitte Mangold ab und schlägt Lauchzwiebeln in Zeitungspapier ein. Wer vor Ort ist, nimmt nicht nur seinen eigenen Anteil mit, sondern oft mehrere Kisten. So werden Wege gespart: Die Solawis haben Abholgruppen organisiert von drei bis sieben Anteilseignern, deren Wohnorte nah beieinander liegen. Abwechselnd holen die Mitglieder das Gemüse ab, um es zu einer Sammelstelle zu bringen.

Umweltingenieurin Inga wohnt im Kaiserviertel. Dort dient eine Garage als Sammelstelle für ihre Gruppe. Wieso sie bei Solawi ist? Für die junge Frau sei das Ganze eher eine Bildungssache. Schwarzwurzel? Rote Melve? Diese regionalen Gemüsesorten hat sie erst durch Solawi kennengelernt. Außerdem: „Es ist toll, zu sehen, was man zusammen schaffen kann.“

 

Ein Beitrag von Lars Frensch und Judith Wiesrecker

Fotos: Judith Wiesrecker