Auf der Konsole ist Brasilien bereits Weltmeister

Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika: 1.219.912 Quadratkilometer, zehn Stadien, 736 Spieler und nur ein Ziel: der Pokal. Doch wozu der Aufwand? Es reichen auch zwölf Quadratmeter, eine Playstation und sechs Akteure, um den Weltmeister zu ermitteln. Das pflichtlektüre-WM-Team hat die 64 Spiele in mehr als 14 Stunden gespielt und weiß jetzt schon, wer den Titel holt.

Von Kerstin Börß und Lisa Schrader

Vorrunde

Volle Konzentration: Jannik beim Eröffnungsspiel. Foto: Sebastian Schaal

Volle Konzentration: Jannik beim Eröffnungsspiel. Foto: Sebastian Schaal

Es ist 12:12 Uhr. Beim Eröffnungsspiel Südafrika gegen Mexiko herrscht große Euphorie. Alle sind beeindruckt von Max’ neuem 37-Zoll-Fernseher und der täuschend echten Nachahmung von Stadien und Spielern. Trotz wiederholter Nachfragen („Mit welcher Taste schieß‘ ich jetzt?“) entwickelt sich eine packende Partie, die der Gastgeber mit 2:1 für sich entscheidet. Bemerkenswert ist, dass trotz neuester Technik auch die virtuellen Schiris Fehlentscheidungen treffen – ganz zur Freude von Jannik und „Bafana Bafana“.

Wir sind der FIFA übrigens sehr dankbar, dass wohl kurz vor der WM die Vuvuzelas noch auf den Index gesetzt wurden. Nicht auszudenken, was ein Ohrenarzt nach 64 Spielen mit Beschallung an uns verdient hätte.

Max ist unzufrieden mit Frankreichs Starstürmer Thierry Henry. Foto: Sebastian Schaal

Max ist unzufrieden mit Frankreichs Starstürmer Thierry Henry. Foto: Sebastian Schaal

Beschallung anderer Art bietet das Duell Südkorea gegen Griechenland. Wenn Sokratis Papastathopoulos gegen Oh Beom-Seog verteidigt und Lee Dong-Gook den Schuss von Konstantinos Katsouranis blockt, fühlt man sich wie der Postbote vor der Klingelliste im Studentenwohnheim.

Doch zurück zum eigentlichen Geschehen. Obwohl Max’ Franzosen sich souverän gegen Uruguay durchsetzen, zeigt er sich unzufrieden mit seinem Topstürmer Henry: „Den kannste doch mit der Hand reinmachen!“

Wesentlich mehr Grund zum Ärgern hat zwei Spiele später Sebastian, dem auch die argentinische Startruppe nicht zum Erfolg gegen Nigeria reicht. Lisa wusste es doch schon immer: „Der Messi reißt halt bei der WM nix.“

Im Gegensatz zu Messi zeigen diverse Bochumer Stürmer, dass sie trotz zweiter Liga noch eine Menge Selbstvertrauen mit in die Nationalelf genommen haben. Max verkündet nach zwei Toren von Dedic stolz: „Bochum macht den Weltmeister.“
Das mit Spannung erwartete erste Spiel Deutschlands gegen Australien hält, was es verspricht. Neunzehn zu zwei Torschüsse, vier zu null Tore und die erleichternde Erkenntnis: Miro Klose kann doch noch treffen! Gleich mal Jogi anrufen… Das erledigt Kerstin, die entzückt feststellt, dass der virtuelle Löw ganz schön attraktiv ist. Dennis vermutet großzügige Spenden von Nivea.

Nur das Geschehen auf dem Bildschirm zählt. Foto: Sebastian Schaal

Nur das Geschehen auf dem Bildschirm zählt. Foto: Sebastian Schaal

In Gruppe H hat Mitfavorit Brasilien einen holprigen Start ins Turnier. Denn Nordkoreas Offensivspieler Jong Tae-Se trifft in letzter Minute zum Ausgleich. Vater des Erfolgs Jannik vermutet: „Wird selten vorkommen, dass der sich mal freut.“
Im selben Moment betritt Max’ Mitbewohner Markus das Zimmer und will wissen, wie Deutschland gespielt hat. Sechs Leute wie aus einem Munde: „4:0 gewonnen!“ Das erste Mal wird uns bewusst, dass es hier schon nicht mehr um eine Spaßveranstaltung geht, sondern eine gewisse Ernsthaftigkeit sich breit gemacht hat.

Weitere Buden von Dedic im Spiel Slowenien gegen die USA lassen Max im Freudentaumel den ausgeliehenen Controller durch die Gegend werfen. Sebastian erinnert ihn daran, dass er gerade mit 25 Euro Kaution rumspielt.

Die zweite deutsche Partie verläuft so, wie wir das kennen. Schwacher Beginn, 0:1 hinten, aber dann dank Özil und Klose doch noch den Sieg geholt. Da Ghana und Australien sich zehn Minuten später unentschieden trennen, steht das Team um Kapitän Marko Marin (Sebastian: „Da hab’ ich mich wohl im kleinen Mann vertan.“) um 17:18 Uhr bereits im Achtelfinale.

Die erste Phase von Müdigkeit verleitet Jannik zu Aussagen wie: „Schwitzt ihr auch immer so, wenn ihr das Ding drei Minuten in den Händen hattet?“. Oder auch: „Ich hab’ mir grad‘ selber gegen die Latte geschossen.“ Und zum krönenden Abschluss: „Da komm’ ich jetzt nicht mehr raus, oder?“ Die Verbalerotik nimmt Überhand.

Als wäre man live dabei. Täuschend echte Animationen auf der Playstation. Foto: Sebastian Schaal

Als wäre man live dabei. Täuschend echte Animationen auf der Playstation. Foto: Sebastian Schaal

Bei Sebastian macht sich die Erschöpfung eher im linken Fuß bemerkbar. Der große Zeh landet daher um 18:04 Uhr auf dem Power-Knopf der Playstation. Der Bildschirm wird schwarz, alle erstarren in ihren Bewegungen und blicken auf den Unglücksraben. Totenstille. Beim Wiederanschalten wird uns klar: Kein einziges Spiel ist gespeichert, wir stehen wieder bei Null.

Also was tun? In die nächste Kneipe gehen, betrinken und das Turnier mit Tischfußball zu Ende führen? Doch Dennis bleibt hart: „Das Leben ist eben kein Kicker-Sonderheft!“

Da der Turnier-Modus wieder beim Eröffnungsspiel beginnen will, geht es jetzt mit dem Freundschaftsspiel-Modus weiter. Für die bessere Übersicht schleicht Jannik in die Küche und klaut den WM-Faltplan vom Kühlschrank. Kerstin und Lisa holen noch mal Bier und Cola vom Supermarkt.

Mit zunehmender Spieldauer identifizieren sich die Jungs immer mehr mit ihren Mannschaften. Jannik nimmt es daher auch persönlich, dass Max mit Argentinien seinen Gekas kaputttritt: „Das wirst du bereuen! Jetzt kommt nämlich Charisteas.“ Gesagt, getan: Mit einem Kopfballtor zerstört der Grieche die letzten Achtelfinalträume der Südamerikaner. Max (im Brasilientrikot) am Boden zerstört: „Aber Argentinien war doch einer meiner Favoriten.“

Genugtuung: Dennis kickt Italien aus dem Turnier. Foto: Sebastian Schaal

Genugtuung: Dennis kickt Italien aus dem Turnier. Foto: Sebastian Schaal

Um 21:56 Uhr nehmen Dennis und Jannik Rache für 2006. Mit Weltmeister Italien verabschiedet sich nämlich ein weiterer Titelkandidat. Dank eines 3:0-Sieges von Paraguay gegen Neuseeland scheidet die „Squadra Azzura“ aus.

Eine knappe Stunde später ist es geschafft. Die Vorrunde ist nach 643 Minuten beendet, von WM-Fieber ist nicht mehr allzu viel zu spüren. Lisa fürchtet, ihren letzten Nachtbus nicht mehr zu kriegen, da Statistik-Spezialist Jannik ihr vorrechnet, dass das Finale erst um halb drei steigen wird. Die anderen versuchen bei einer Schale Schokopudding die verspannten Muskeln in Hintern und Fingern zu vergessen.

Achtelfinale

In der Runde der letzten 16 häufen sich jetzt die Unentschieden und damit auch die Entscheidungen im Elfmeterschießen. Nun zeigt sich, dass die Jungs die technischen Finessen der Konsole noch nicht ganz beherrschen. Frankreich setzt sich zum Beispiel mit 2:1 gegen Nigeria durch. Nein, das ist kein Tippfehler.

Da ist das Ding. Jannik bringt Deutschland ins Viertelfinale. Foto: Sebastian Schaal

Da ist das Ding. Jannik bringt Deutschland ins Viertelfinale. Foto: Sebastian Schaal

Auch Deutschland reichen 90 Minuten im Duell mit Slowenien nicht. Aber wieder ist auf Klose Verlass, der mit seinem sechsten Turniertor in der 110. Minute an Legenden wie Gerd Müller und Ronaldo vorbeizieht und Max’ Zimmer in einen schwarz-rot-goldenen Jubelraum verwandelt. Da ist sie wieder, die Euphorie! Erste Pläne für Autokorsos beim eventuellen Titelgewinn werden geschmiedet.

Jannik hat sich derweil mit dem Faltplan aufs Klo verzogen und rechnet aus, welche Konstellationen in der nächsten Runde am günstigsten für Löws Truppe wären.

Viertelfinale

Günstig oder nicht, um 1:06 Uhr stehen die Viertelfinalpartien fest: Frankreich – England, Deutschland – Südafrika, Schweiz – Holland und Brasilien – Dänemark.
Obwohl normalerweise nicht für starke Nerven bekannt, trifft Englands Frank Lampard in der 57. Minute per Foulelfmeter zum 1:0-Erfolg über Frankreich. Vielleicht doch ganz gut, dass David Beckham nur auf der Trainerbank sitzt.

Vor dem deutschen Spiel tönt Jannik, der Südafrikas Geschicke lenkt, in Richtung Sebastian: „Dich schlag’ ich auch einhändig.“ Nach kurzem Blick auf den Adler auf seiner Brust folgt allerdings ein kleinlautes: „Ich will dich doch eigentlich gar nicht schlagen.“

Nach 14 Stunden Spielen ist die Wohnung das reinste Chaos. Foto: Sebastian Schaal

Nach 14 Stunden Spielen ist die Wohnung das reinste Chaos. Foto: Sebastian Schaal

Sein Patriotismus hält leider nur kurz an. Auch das pöbelnde Publikum kann ihn nicht davon abhalten, einen südafrikanischen Angriff nach dem anderen einzuleiten.
Als dennoch alles auf ein torloses Remis hinauszulaufen scheint und Sebastian schon geistig in der Verlängerung ist, lässt Bernard Parker die deutschen Titelträume zerplatzen. Stille macht sich breit. Deutschland ist tatsächlich ausgeschieden. Irgendwie ist jetzt die Luft raus.

Das 2:0 Brasiliens über Dänemark und der 3:1-Sieg der Holländer über die Schweiz finden in der darauf folgenden Trauerphase daher nur wenig Aufmerksamkeit (Dennis: „Los Kinder, Party! Stimmung!“ – Max: „Halt die Fresse.“). Aber was muss, das muss ja.

Halbfinale

Punkt zwei Uhr. Das erste Halbfinale zwischen England und Brasilien verspricht eigentlich eine Menge Spannung, aber irgendwie entwickelt sich ein lahmer Kick. Auch die Kommentatoren der Partie sind anscheinend nicht mehr mit dem anfänglichen Elan bei der Sache: Kerstin rätselt ob die Beiden jetzt müder reden, oder ob sie schon müder hört. Brasiliens Elano erlöst uns kurz vor Schluss, Verlängerung wäre auch zu viel des Guten gewesen.

Um zwei Uhr sind die Augenringe nicht mehr zu verbergen. Foto: Lisa Schrader

Um zwei Uhr sind auch bei Sebastian die Augenringe nicht mehr zu verbergen. Foto: Lisa Schrader

Der 1:0-Sieg der Niederlande gegen Südafrika führt uns zu zwei Erkenntnissen: Man sollte eine Menge Geld auf Hollands Dirk Kuyt setzen, denn zehn Turniertore sprechen für einen hohen Gewinn. Und: „Das ist wie 2002 und 2006, der Gastgeber ist im Halbfinale raus. Dann kann das gar nicht so falsch sein, was wir hier machen!“

Finale

Das Spiel um Platz drei zwischen England und Südafrika ist so attraktiv wie Lucio, bevor man ihm eine Zahnspange nahelegte. Dennis möchte inzwischen lieber eine Folge Alf gucken, Max fingert nach seiner letzten Zigarette, Lisa schläft.
Rooneys Siegtreffer weckt uns pünktlich um 2:36 Uhr, Zeit fürs Finale!

Und wie es bei einem Endspiel üblich ist, sind sich mittlerweile alle einig, dass sich mit Brasilien und Holland eindeutig die stärksten Teams gegenüber stehen. Obwohl beide ihr Auftaktspiel in den Sand setzten, steigerten sie sich im Verlauf des Turniers und liefern sich jetzt ein spannendes Duell. Aus heiterem Himmel ist es dann ein Dreierpack von Luis Fabiano und Kaká, der innerhalb einer Viertelstunde das Schicksal von Oranje besiegelt.

Max schießt Brasilien zum Titel. Foto: Sebastian Schaal

Max schießt Brasilien zum Titel. Foto: Sebastian Schaal

2:51 Uhr: Weißer Rauch steigt auf, wir haben einen Weltmeister. Doch uns fehlt die Kraft, das ordentlich zu feiern. Das Zimmer ist verwüstet. Überall liegen leere Pizzateller, Puddingschalen und Bierflaschen. Der Aschenbecher quillt über. Es stinkt.

Dennis’ Stimme reißt uns aus unserer Lethargie: „Heute Abend noch mal zocken?“
Die einstimmige Antwort: „Nein!“

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