Hilfe statt Abschiebung für Flüchtlinge

Medizinische Flüchtlingshilfe BochumNie zuvor konnten Bilder von Missständen, Kriegen, Verfolgung, Hungerkatastrophen und Entrechtung derart aktuell, derart bildgewaltig, vom heimischen Wohnzimmer aus verfolgt werden. Doch obgleich viele Krisengebiete der Welt schneller mit dem Flugzeug erreicht werden können als manch beliebtes Urlaubsziel, wirken die täglichen digitalisierten Schreckensmeldungen in den Medien auch im globalisierten Zeitalter in trügerischer Ferne. Dabei leben viele Menschen mit Erfahrungen von Krieg, Flucht und Vertreibung hier unter uns in Deutschland.

Gemein ist vielen dieser Personen, dass sie Opfer sogenannter „man-made disasters“ wurden, also menschgemachte Gewalt- und Entrechtungserfahrungen erleiden mussten. Die Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum (MFH) hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Lebenssituation dieser häufig mehrfach traumatisierten Personen zu verbessern. Sie setzt sich für eine universelle Gültigkeit der Menschenrechte und der Anerkennung der Menschenwürde ein, unabhängig vom Aufenthaltsstatus. Auch Menschen „ohne Papiere“ werden folglich unterstützt und gesundheitlich versorgt.

Die Organisation aus dem Ruhrgebiet könnte ohne einen Stamm von ehrenamtlichen Mitarbeitern nicht existieren und arbeiten. Zu diesem Kreis der Ehrenamtler gehört auch die Studentin Inga Sponheuer. Die 28-Jährige kann bei der MFH konkret Mitmenschen helfen. Auch wenn diese, wenn sie sich ohne Aufenthaltserlaubnis in Deutschland befinden, offiziell überhaupt nicht in Deutschland existieren oder existieren sollen. Inga kann viele Geschichten erzählen von ihrem Engagement in der Grauzone zwischen Arzt, Asyl, Ausländeramt, Anonymität und Abschiebung.

Die Studentin und gelernte Kinderkrankenschwester aus Essen arbeitete bereits in Ghana in einem Krankenhaus und suchte nach der Rückkehr ins Ruhrgebiet eine Möglichkeit, sich auch hier sozial zu engagieren. Der schwierige Situation von Flüchtlingen in Deutschland war ihr bereits vorher bekannt. „Ich war mir immer bewusst, dass es ein Problem gibt, was täglich rechts und links an mir vorbei läuft“, sagt Inga.

„Was passiert vor meiner Haustür?“

„Ich wusste, dass es viele dieser Menschen in Deutschland gibt. Nach meiner Rückkehr aus Ghana fragte ich mich, was eigentlich hier vor meiner Haustür passiert und wie ich helfen kann.“ Sie gelangte auf die Webseite der MFH. Das war der Beginn ihres Engagements.

Inga und ihre Arbeitskollegen kümmern sich um Menschen, die es offiziell garnicht in Deutschland gibt.

Viele Menschen leben ohne Aufenthaltserlaubnis in Deutschland. Die MFH Bochum setzt sich für ihre Rechte ein. Foto: Zoria Miller /flickr.com, Teaser- & Bannerfotos: Christian Teichmann (5), Erich Westendarp /pixelio.de, Harald Reiss /pixelio.de, neverending september /flickr.com

Seit 2007 arbeitet sie in der medizinischen Sprechstunde der Flüchtlingshilfe Bochum. Über die Sprechstunde wird konkrete medizinische Hilfe, ungeachtet des Aufenthaltsstatus, anonym vermittelt. Hierzu verfügt die MFH über ein Netzwerk von Ärzten in der Region, die diesen Menschen die benötigte Versorgung zukommen lassen.

Denn besonders für die geschätzt mindestens eine halbe Million Menschen, die ohne Aufenthaltserlaubnis in Deutschland leben, gestaltet sich ein Arzt- oder Krankenhausbesuch als äußerst schwierig – auch in existentiellen gesundheitlichen Notlagen. Die stetige Angst vor der Abschiebung, der Zwang zum „Untertauchen“, die Angst vor den Behörden, machen die Sprechstunde notwendig.

Die medizinische Fürsorge ist dabei nur ein Arbeitsfeld der Hilfsorganisation aus Bochum. Auch ein eigenes, international anerkanntes Therapiezentrum mit zwei festangestellten Therapeutinnen, welche sich um die Überlebenden von Krieg, Verfolgung und Folter kümmern, gehört zur MFH. Doch während etwa Kriegstraumatisierte persönlich in das Therapiezentrum kommen, werden Inga und die anderen Ehrenamtlichen vorrangig per Telefon kontaktiert.

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„Der Mensch wird zum Illegalen gemacht

Ehrenamtliche wie sie, oftmals Medizin- und Psychologiestudenten, nehmen Anrufe von Menschen entgegen, die gemeinhin und in polizeideutsch als „Illegale“ bezeichnet werden. Inga lehnt diesen Begriff jedoch kategorisch ab: „Wir benutzen den Begriff des ,Illegalisierten Menschen‘ und nicht des ‚Illegalen Menschen‘“, erklärt sie, „der Mensch ist nicht selber der Illegale, sondern er wird zum Illegalen gemacht. Wir helfen illegalisierten Menschen, die keine Möglichkeit haben, auf normalen Weg einen Arzt aufzusuchen.“

Aber auch die Personengruppe, die nur über einen Duldungsstatus in Deutschland verfügt, meldet sich in der Sprechstunde. Diese Menschen erhalten sonst nur in akuten Schmerzsituationen oder über einen Antrag des Sozialamts medizinische Behandlung. Für Inga ein unhaltbarer Zustand: „Es wird nur das behandelt, was so notwendig ist, dass du nicht morgen tot auf der Straße liegst.“

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„Das ich mir erst einen Krankenschein von einem Sacharbeiter holen muss, der noch nicht mal über eine medizinische Ausbildung verfügen muss, aber entscheidet, ob ich das Recht habe zum Arzt zu gehen oder nicht, ist nicht tragbar. Das funktioniert nicht. Das kann nicht funktionieren“, sagt Inga.

Auch für den Anruf traumatisierter Klienten ist sie geschult worden, doch ihre Hauptaufgabe ist die Organisation und Vermittlung. Welche Geschichten sich hinter einem Anruf verstecken, kann sie kaum ergründen. Häufig wird die Sprechstunde auch über Mittlerpersonen kontaktiert, die für den Hilfe suchenden Klienten zum Hörer greifen. Inga ist sich ihrer enormen Verantwortung für die Menschen am anderen Ende der Leitung bewusst. Jeder Fall, jeder Anruf und jeder Anrufer sind für die Studentin individuell.

Nie das Gefühl, allein gelassen zu werden

Sie erinnert sich noch gut an den Tag, als sie ihre erste Sprechstunde übernahm. Ihre anfängliche Nervösität konnte sie dabei schnell ablegen. Bei Fragen können sich die Ehrenamtlichen immer an erfahrene Mitarbeiter wenden. Das Gefühl, alleine gelassen zu werden, hatte sie nie.

Doch es gibt stets Anrufe, die auch mit langjähriger Erfahrung immer wieder besonders kritisch für das Team der MFH sind. Dies ist besonders dann der Fall, wenn eine schwangere Frau ohne legalen Aufenthaltsstatus Hilfe ersucht. Schwangere Frauen haben in Deutschland zwar üblicherweise Anspruch auf die Versorgung von Schwangerschaft und Geburt, doch in der Praxis ist in diesem Fall alles ungleich schwerer. Von einer normalen ärztlichen Schwangerschaftsfürsorge sind Menschen in der Illegalität weit entfernt.

„Schwangerschaften sind ein unglaubliches Problem“

Auch wenn Ärzte bei Entbindungen zur Schweigepflicht verpflichtet sind, fürchten die Frauen Behörden und drohende Abschiebungen. „Das Thema Schwangerschaft ist ein unglaubliches Problem. Jedes mal, wenn eine Schwangere bei uns anruft, können wir uns erst mal eine Stunde zusammensetzen und überlegen, was wir machen“, sagt Inga.

„Das Kind muss angemeldet werden. Macht die Mutter das nicht, kann sie im Fall einer Abschiebung von ihm getrennt werden.“ Auch wenn das Sozialamt neuerdings bei Bekanntgabe von Schwanger- oder Mutterschaft einer Person ohne Aufenthaltsstatus, genau wie Ärzte und Krankenhaus, der Schweigepflicht untersteht, sind damit nicht alle Probleme gelöst. In wie weit nicht doch dem Ausländeramt Meldung gemacht wird und dadurch das konkrete Risiko der Abschiebung erhöht wird, ist meist nicht absehbar.

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Kollage: Linkes Foto von Christian Teichmann / Rechtes Foto: http://www.flickr.com/radiomaria/

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Der Berg an Aufgaben ist groß, die Zukunft der europäischen Flüchtlingspolitik unklar. Wie sich die Grenz- und Flüchtlingspolitik Deutschlands und der EU entwickeln, ist nicht absehbar. Derzeit gestaltet sie sich eher restriktiv. Doch die Belegschaft der MFH Bochum hat auch erfreuliches zu berichten.

Der kontinuierliche Ausbau des Ärztenetzwerkes, Kooperationen mit staatlichen Stellen und verbesserte rechtliche Bedingungen der Flüchtlingshilfen Deutschlands sind laut der MFH Schritte in die richtige Richtung. Das, in der, auch mit öffentlichen Geldern finanzierten, Organisation „Illegale“ unterstützt werden, ist kein Geheimnis. Die Situation von hunderttausenden Menschen ohne Aufenthaltserlaub, ist aber dennoch kein Thema der Medien.

Inga ist sich bewusst, dass der Wust an Problemen und Hindernissen groß ist. Doch sie zweifelt nicht an ihrer Arbeit. „Ich bin kein selbstloser Mensch, natürlich nicht. Aber ich kann einzelnen Menschen helfen. In der Kleinheit der Dinge kann ich etwas bewirken. Man sagt immer, man kann nichts tun. Ich bin aber der Meinung, man kann immer etwas tun!“

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