Piraten: Schatz oder Schreckgespenst?

Der klassische Pirat hat eine Augenklappe, ein Holzbein und Narben. Der Neuzeit-Pirat ist dagegen ein ganz „normaler“ Bürger. Und doch ist er für viele ein Schreckgespenst – das die politische Landschaft in Deutschland verändern wird. Der Dortmunder Kreisvorsitzende Christian Gebel erzählt, wie er zu den Piraten kam und wieso die Piraten „Politiker aus Notwehr“ sind.

Noch ist alles ruhig in dem mexikanischen Restaurant. Ein Mann mit einer grauen Cord-Jacke, Vollbart und Rollkragenpulli stellt orangefarbene Wimpel auf den Tisch. Christian Gebel ist Vorsitzender des Kreisverbandes Dortmund und bereitet den Stammtisch in Dortmund-Hombruch vor. Hier finden sich Leute zusammen, die – wie er – das „Polit-Kasperletheater satt haben.“

Basisdemokratie als Leitmotiv

Christian Gebel geht optimistisch in die Landtagswahl am kommenden Sonntag.

Christian Gebel geht optimistisch in die Landtagswahl am kommenden Sonntag.

Gebel selbst kam vor etwa zwei Jahren – lange vor den Wahlerfolgen – über einen Stammtisch zu den Piraten: „Die Herangehensweise, auch Nicht-Mitglieder direkt in Entscheidungen einzubeziehen, hat mir sehr imponiert.“ Egal wie groß der Stammtisch sei, es habe immer geordnete Gespräche gegeben, erzählt Gebel. Hierin sieht der Pirat den Beweis, dass Basisdemokratie auch ohne starre Anleitung und Hierarchie funktioniere. Auch sein eigenes Amt betrachtet Gebel weder als Auszeichnung noch als etwas Besonderes. „Es existiert keine Hierarchie, hier kann jeder sofort den Bundesvorstand anrufen“, sagt er.

Politikwissenschafter haben den neuen Trend der innerparteilichen Basisdemokratie ebenfalls erkannt. Von einem „Generationeneffekt“ spricht Britta Rehder, der Umschwung zur flachen Hierarchie. Rehder ist Politik-Professorin an der Ruhr-Universität Bochum. „Die Bedeutung des Internets macht ein ganz neues Politikfeld auf“, sagt sie. Dank moderner Kommunikationsmöglichkeiten und Plattformen wie „LiquidFeedback“ – eine Forumssoftware für Austausch und Abstimmung über Themen – oder dem Piraten-Wiki werde die Mitbestimmung der gesamten Basis ermöglicht.

„Lieber die Piraten, als die NPD als Protestpartei“

Auch Barbara Brunsing macht sich über die Rolle der Piraten Gedanken - oft wird der Aufstieg mit dem der Grünen verglichen. Foto: Die Grünen Ortsverband Hombruch

Die Grüne Barbara Brunsing macht sich über die Rolle der Piraten Gedanken. Foto: Die Grünen Ortsverband Hombruch

Politikverdrossenheit und die Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien spielen der jungen Partei in die Karten. „Viele Politiker auf Bundesebene haben die Bodenhaftung verloren, das stößt den Bürgern auf“, versucht Barbara Brunsing, Grünen-Fraktionssprecherin der Bezirksvertretung Hombruch, den Erfolg zu begründen. In der „Diskrepanz zwischen den Parteiprogrammen und dem Willen der Bürger“ sieht dagegen Hans Semmler, CDU-Vorsitzender des Ortsverbands und Bezirksbürgermeister von Dortmund-Hombruch, den hauptsächlichen Grund für den Erfolg der Piraten. Die Piraten schaffen etwas, was etablierten Parteien wie CDU und Grüne seit Jahren nicht mehr gelingt: Bisher politisch desinteressierte Nicht-Wähler zu akquirieren. Der Pirat Gebel möchte gar nicht verhehlen, dass der Großteil der Piraten-Wähler tatsächlich aus Protest wählt. Im Gegenteil, er sieht die Piraten als „Politiker aus Notwehr“. Sein dauerhaftes Ziel ist es, diesen Protest in politische Aktivität umzumünzen.

Jung und dynamisch – ist das der Grund des Erfolgs?

Ein Blick auf die Homepage der Piratenpartei Dortmund zeigt Parteimitglieder, die das „Merkel’sche Viereck“ – zu einer Raute geformte Hände – parodieren. Mit solchen Gags allein kann der Erfolg wohl nicht erklärt werden. „Die etablierten Parteien haben sich zwar bemüht, das Thema Netz in die politische Debatte einzubringen. Jedoch konnten die Piraten durch ihren neuen internetbasierten, basisdemokratischen Politikstil hierbei glaubwürdiger argumentieren“, analysiert Udo Vorholt, Politikwissenschaftler an der TU Dortmund. Auch die Grünen-Politikerin Brunsing sieht den Grund für den Piraten-Erfolg im Internet, das „junge, aber auch unreflektierte Menschen“ anziehe.

Nicht nur Internet, sondern auch weitere Schlagworte wie Transparenz im Netz und der freie Download fallen in Verbindung mit der Piraten-Partei. Und doch möchte Gebel das Vorurteil, nur junge Männer, „Nerds“ und Informatiker seien Piraten-Anhänger, nicht mehr stehen lassen: „Die Vorurteile trafen zu, mittlerweile aber steigt sogar der Altersschnitt.“ Es seien „normale“ Menschen, wie überall anders auch. Vielmehr sprächen die Piraten mit dem direkten wie auch legeren Stil gesamte Breite der Gesellschaft an.

Steigende Mitgliederzahlen – „Skype-Konferenzen“ als Basisdemokratie?

Diskussion auf Augenhöhe: Die Basis bestimmt die Richtung. Foto: Alexander Koch

Diskussion auf Augenhöhe: Die Basis bestimmt die Richtung. Foto: Alexander Koch

Themen werden bei den Piraten-Stammtischen – wie hier in Hombruch – gleichberechtigt besprochen und abgestimmt. Die Piraten sind stolz darauf, keinen Redeführer und dennoch eine geordnete Diskussionskultur zu haben. Doch den großen Erfolg und die beständig steigenden Mitgliederzahlen sehen Politikwissenschaftler als große Gefahr für die Basisdemokratie. „Je stärker und größer eine Partei wird, desto stärker wird auch die Bürokratisierung“, bezweifelt die Bochumer Professorin Rehder das dauerhafte Fortbestehen der flachen Hierarchie in der Piraten-Partei.

Die Piraten ihrerseits haben dafür schon eine neue Idee entwickelt, mit der sie auch bei zukünftigen Bundesparteitagen ein Delegiertensystem wie bei den etablierten Parteien umschiffen wollen. Bei dem gemeinsamen Parteitag mit dem Bochumer Kreisverband wollen die Piraten eine große Halle mieten, die durch eine variable Wand in der Mitte teilbar ist. Das Experiment sieht vor, in beiden Teilen der Halle zwei Parteitage parallel stattfinden zu lassen, die über simultane Kommunikationsmittel – mit Skype vergleichbar – vernetzt werden. Sieht so Politik 2.0 aus?

Politische Gegner werfen Konzept- und Orientierungslosigkeit vor

Konservative Werte in Gefahr: Hans Semmler sieht die Rolle der Piraten kritisch.

Konservative Werte in Gefahr: Hans Semmler sieht die Rolle der Piraten kritisch. Foto: CDU Hombruch

„Bis jetzt sehe ich nur, dass die Piraten den Bürgern Versprechen für Freiheit hier, Freiheit dort geben. Das ist zu einfach.“ Mit dieser Kritik steht der Hombrucher Bezirkbürgermeisters längst nicht alleine da. So werfen die politischen Gegner den Piraten teils Konzeptlosigkeit und teils fehlende Positionierung vor. Grünen-Politikerin Brunsing stößt mit ihrer Kritik ins gleiche Horn: „Politik kann ich nur mitgestalten, wenn ich konkret etwas vorschlage und Kompromisse eingehe.“ Sie erwartet von den Piraten eine deutlichere Profilierung.

Aus Sicht der Piraten ist dies jedoch schon geschehen. So fordern sie beispielsweise eine Informations-Politik, die nicht nur transparent ist, sondern den Bürgern auch aktiv den Zugang zu Informationen erleichtert. „Man kriegt das Gefühl, dass man sich Informationen bei den Städten, wie Dortmund, erarbeiten muss. Das ist ein allgemeines Problem“, argumentiert Gebel.

Mehr Geld für Bildung und kostenloser ÖPNV

Auch in der Bildungspolitik beziehen die Piraten bereits Position. Gebel fordert ähnlich wie Hannelore Kraft, Spitzenkandidatin der SPD, Investitionen anstelle von Kürzungen. „Wir können nicht die ganze Zeit von Integration sprechen, und doch nichts tun.“
Deshalb sollen mehr Geldmittel in die Hand genommen werden. Schwierige Fälle und Menschen mit Behinderungen sollen nach Wunsch der Piraten durch Psychologen und Fachpersonal besonders gut integriert werden. Hier dienen Länder mit hohen Bildungsausgaben, wie Schweden, als Vorbild.

Bei dem großen Streitpunkt kostenloser öffentlicher Nahverkehr versucht Gebel, die Idee der Finanzierung zu erklären: Eine Steuererhöhung von wenigen Euros und ein entsprechendes Umlageverfahren der Steuereinnahmen sollen die Kosten decken und die Bürger dazu bringen, verstärkt Busse und Bahnen zu nutzen und ihr Auto stehen zu lassen.

Zweifel in Politik und Wissenschaft an den Piraten sind nicht ausgeräumt

Dennoch konnten die Piraten die Zweifel an ihrer Ernsthaftigkeit weder bei Wissenschaftlern noch bei den politischen Gegnern komplett ausräumen. Professor Rehder merkt an, dass „Parteipolitik extrem mühsam“ sei und hat Bedenken, ob eine so „blutjunge und unerfahrene“ Partei dies aushalten könne.

Pirat Gebel selbst rechnet sich gute Chancen aus, dass die Partei sich langfristig etabliert und sieht die starke Kommunikation innerhalb der Partei auch über moderne Kommunikationsmittel als Schlüssel zum Erfolg an. Noch sind die Abstimmungen kein Problem – zumindest in Hombruch. Hände gehen in die Höhe, die Basis entscheidet.