Schönheit extrem: Der metallene Mann

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von Philip Michael und Vivien Timmler

Bodymodification – die Kunst mit dem eigenen Körper wird immer populärer. Der Schönheitsbegriff hat sich gewandelt. Heute gibt es wenige junge Menschen, die Piercings, Tattoos und Co. ganz verteufeln. Immer noch exotisch: extreme Körperkünstler wie Rolf Buchholz. Wir haben den meistgepiercten Mann der Welt und seine Piercerin Andrea Venhaus getroffen. Zwei Portraits über zwei ungewöhnliche Persönlichkeiten und ihre Sicht auf die Schönheit.

DER MEISTGEPIERCTE MANN DER WELT

Rolf Buchholz´ Gesicht ist vollgestochen mit Piercings – sein Körper auch. 456 Metallteile bedecken seine Haut und machen ihn damit zum meistgepiercten Mann der Welt. Für viele Menschen ist Buchholz´ Äußeres ein extremer Bruch mit jedem Schönheitsideal. Für ihn ist es Selbstverwirklichung.

Rolf Buchholz fällt auf – und das, obwohl er nichts anderes tut, als auf dem Vorplatz des Dortmunder Hauptbahnhofs zu stehen, die Hände in den Hosentaschen. Immer wieder sieht man Menschen, die mit großen Augen die Köpfe zusammenstecken und tuscheln. „Man kennt mich eben“, sagt der 55-Jährige gelassen, „und wenn Leute trotzdem starren, macht mir das nichts aus!“

Kein Wunder, denn Buchholz steht im Guinnessbuch der Rekorde – als meistgepiercter Mann der Welt. Die Haut um seinen Mund herum ist unter dem eisernen Körperschmuck kaum erkennbar. Auch Nase, Ohren und Augenbrauen sind voller Piercings, aus seiner Stirn wachsen zwei hautfarbene Hörner. Und das, was in seinem Gesicht zu sehen ist, ist nur die Spitze des Eisbergs.  „Ich habe insgesamt 456 Piercings an meinem Körper, verschieden Implantate, Brandings und Tattoos, die fast die ganze Oberfläche meiner Haut bedecken.“

Ich hatte einfach Lust darauf

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Rolf Buchholz fällt auf. Die Menschen in Dortmund kennen ihn mittlerweile. Fotos: Philip Michael

Dabei ist der extreme Körperschmuck des 55-Jährigen keinesfalls das Ergebnis einer wilden Jugendzeit. Vor sechzehn Jahren hatte Buchholz nicht einmal ein Ohrloch. Er war ein unscheinbarer Zeitgenosse gewesen, ein Mann, der in den achtziger Jahren Informatik an der TU Dortmund studiert hatte und einen guten Job bei einem großen Telekommunikationsunternehmen bekam. „Dann bin ich 1999 zur Tattoo-Convention nach Berlin gefahren und hab mir spontan ein Brustwarzen-Piercing stechen lassen. Ich hab das nicht geplant, ich hatte einfach Lust darauf und es hat mir gefallen.“ Und planlos ging es seither weiter. Das Gesamtkunstwerk Rolf Buchholz ist langsam gewachsen – nach Lust und Laune. Immer wieder fuhr der Informatiker anfangs zur Tattoo-Convention, lies sich einzelne Piercings und Tattoos stechen. Nach einiger Zeit entdeckte er das Piercing-Studio „Deep Metal“ in Dortmund, wo er kurzerhand Stammkunde wurde. „Ich habe keinen bestimmten Stil. Es muss passen, es muss gefallen. Die Tattoos sind alle schwarzweiß. Das gefällt mir. Die Implantate und Piercings kann ich fühlen. Das gefällt mir sehr.“

Seine Ärzte fanden seine schrittweise Verwandlung nicht immer gut. Und trotzdem – gesundheitliche Probleme habe er noch nie gehabt, sagt Buchholz. „Ich habe anscheinend eine gute Haut. Meine Piercings sind immer sehr schnell geheilt, haben sich nie entzündet. Manch ein anderer lässt sich einen einfachen Augenbrauen-Piercing stechen und kämpft monatelang mit Komplikationen.“

Schmerz ist doch Kopfsache

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Rolf Buchholz´Körper ist ein Gesamtkunstwerk. Neben seiner Arbeit tourt er für Fotoshootings und Shows um die Welt.

Eine der Standardfragen, die Buchholz zu hören bekommt, ist: tut das alles denn nicht extrem weh? Buchholz muss schmunzeln, dann antwortet er wieder in seiner bescheidenen, fast schon schüchternen Art: „Nein. Im Gegenteil. Ich bin sogar sehr schmerzempfindlich. Ich finde es schon schmerzhaft, wenn ich mir mit einem Stück Papier in den Finger schneide. Andererseits ist es manchmal weniger schmerzhaft, von einem Messer geschnitten zu werden. Im Endeffekt ist das doch Kopfsache. Was ist überhaupt Schmerz? Und warum denken Menschen immer, Schmerz sei negativ. Die Dosis macht es doch.“

Dortmund Hauptbahnhof, Vorplatz. Wieder dreht sich eine vorbeigehende Frau mit großen Augen um. Daran, dass er in der Öffentlichkeit immer wieder angestarrt wird, hat er sich gewöhnt. Es seien meist dieselben Reaktionen, dieselben Fragen, mit denen er konfrontiert werde. „Entweder werde ich nach einem Foto gefragt, oder gefragt, wie viele Piercings ich habe oder ob das nicht weh tut. Wirklich tiefgehend sind die Gespräche meist nicht. Oder es kommt der Satz: Hey, ich kenne dich aus dem Fernsehen. Das ist nicht einmal eine Frage.“ Buchholz lacht vergnügt.

Die Menschen haben sich an mein Aussehen gewöhnt

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Schönheit extrem: Auch Buchholz´ ganze Haut ist mit Tattoos bedeckt.

Anderseits habe seine Bekanntheit auch dazu geführt, dass die Leute sich in Dortmund mittlerweile an seinen Anblick gewöhnt hätten. Als er vor 16 Jahren damit begann, seinen Körper zu modifizieren, waren Tattoos und Piercings noch mehr oder weniger exotisch. Heute ist es bei jungen Menschen schon fast schwierig, jemanden ohne Tattoo oder Piercing zu finden. Dieser Trend habe auch dazu geführt, dass Buchholz Körperkunst in der Öffentlichkeit immer mehr Akzeptanz erfahre. Selbst sein Arbeitgeber habe nie ein Problem mit seinem Äußeren gehabt. Das Schönheitsideal hat sich geändert. „Die Leute sehen Bodymodification im Fernsehen, sehen es an ihren Stars. Wenn man etwas jeden Tag sieht, wird es normal. Man kann Leute eher damit erreichen, ihnen etwas jeden Tag zu zeigen, als mit irgendwelchen eigenen Sichtweisen zu argumentieren.“

Negative Meinungen bezüglich seines Äußeren kann Buchholz souverän verkraften. Jeder Mensch habe schließlich seine Meinung. Und wenn jemand hinter seinem Rücken lästere, sei ihm das egal. „Das hat weniger mit großem Selbstbewusstsein zu tun als mit Ruhe und Gelassenheit. Ich rege mich halt nicht über das auf, was die Leute so reden.“

Auch Bodybuilder betreiben Bodymodification

Der neuste Trend: Implantate. Zwei Silikon-Hörner zieren seit einigen Jahren Buchholz´ Stirn.

Trotzdem steht Rolf Buchholz dem Tattoo- und Piercing-Hype auch kritisch gegenüber. Allein dem Begriff der Bodymodification, unter den heute alle möglichen Formen der Körperkunst fallen. Der Begriff sei ein Plastikwort. „Jemand, der sich seine Brüste machen lässt, oder Bodybuilding betreibt, verändert seinen Körper genauso, wie ich es tue“, meint der Informatiker. Der extrem-Körperkünstler hat sich nie nach solchen Trends gerichtet. Er begann mit seinen Piercings, Tattoos und Implantaten Jahre vor dem jetzigen Boom. Für ihn ist deshalb auch sicher, dass ihm sein Äußeres auch in Zukunft gefallen wird. „Für mich ist meine Verwandlung zeitlos schön. Natürlich, heute hätte ich vielleicht das ein oder andere anders gemacht. Im Gegensatz zu vielen Menschen heute habe ich das alles aber immer nur für mich gemacht und nicht, weil irgendein Schauspieler es vorgemacht hat. Deshalb gehören meine Piercings zu meiner Persönlichkeit und ich glaube, dass ich immer damit zufrieden sein werde. Problematischer ist das doch für viele junge Menschen, die sich mit Anfang zwanzig komplett zutätowieren und nach einigen Jahren merken, dass Arschgeweih oder Sternchen doch nicht mehr in sind.“

Ebenso zeitlos ist für Rolf Buchholz sein persönliches Empfinden für Schönheit. Das landläufige Schönheitsideal, das in Medien und Mode zelebriert wird, empfindet der 55-Jährige als zu konform, als zu langweilig und glatt. „Ich finde jemanden, der nach gängigem Empfinden nicht schön ist, aber dafür interessant aussieht, schöner. Kleine Makel, Sommersprossen, eine krumme Nase, alles was auffällt, finde ich schön.“ Rolf Buchholz fällt auf. Nicht weil er auffallen möchte, nicht weil er rebellieren will. Weil er es schön findet.

 

 

 

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DIE PIERCERIN

Auch Andrea Venhaus kann sich ein Leben ohne Metallringe und Tattoonadeln nicht mehr vorstellen. Die Inhaberin eines Dortmunder Piercingstudios ist dem Körperschmuck schon seit 1988 verfallen – und hat ihr Hobby schnell zum Beruf gemacht.

Es gibt Kunden, die kommen nach dem ersten Piercing wieder. Es gibt auch Kunden, die kommen zehn Mal wieder, vielleicht sogar zwanzig Mal. Die, die Freunde mitbringen, zu Stammkunden werden. Und es gibt Rolf.

Wie oft Rolf Buchholz die Schwelle des Dortmunder Piercingstudios Deep Metal Piercing“ übertreten hat, hat Andrea Venhaus irgendwann nicht mehr nachgehalten. Wie viele Piercings sie ihm dort durch den Körper geschossen hat, weiß sie jedoch ganz genau: 458 an der Zahl.

Hört sich viel an, ist es irgendwie auch, findet Andrea Venhaus. Trotzdem habe sie nie das Gefühl gehabt, dass Rolf so langsam größenwahnsinnig werde. Die Menge ist ganz langsam und gemächlich gewachsen, beschreibt sie, immerhin hat die Entwicklung vom ersten Piercing bis zur Zählung für das Guinnessbuch der Rekorde elf Jahre gedauert.“ 458 Piercings auf elf Jahre verteilt, das mache dann ja lediglichdreieinhalb Piercings im Monat, also nicht mal eins pro Woche.

Rolf war das perfekte Versuchsobjekt

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Ungewöhnlicher Berufsalltag: Auch Eingriffe im Genitalbereich gehören zu Andrea Venhaus´ Aufgaben.

Seit elf Jahren ist Rolf also Stammkunde in Andrea Venhaus‘ Piercingstudio und ist im Laufe der Zeit zu einer Art Versuchskaninchen geworden. Piercen lernen geht schließlich nur am lebenden Objekt und die meisten halten das eigene Ohr oder die eigene Lippe eher ungern einem Azubi zum Lernen hin. Rolf dagegen hatte damit kein Problem: Fast alle Auszubildenden des Deep Metal Piercing-Studios haben ihre ersten Piercings an ihm gestochen. Mittlerweile taugt er nicht mehr als Ausbildungsobjekt, bedauert Andrea Venhaus: Da jetzt noch etwas dazuzupuzzeln das ist wirklich etwas für Fortgeschrittene.

Und fortgeschritten, das ist die Frau mit den blonden Haaren und der tiefen, rauen Stimme definitiv. Im Jahr 1989 stach sie ihr erstes Piercing in einer Zeit, in der der Bekanntheitsgrad des Körperschmucks noch knapp über Null lag. Selbst in einer Großstadt wie Berlin hatte man damals die Chance, mit Piercings massiv angestarrt zu werden, blickt Andrea Venhaus zurück, in einem hinterbayrischen Dorf fällt man damit heute weniger auf, als damals in Berlin in der U-Bahn.

Was für Punks oder Schwule

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Früchte ihrer Arbeit: Rolf Buchholz ist Venhaus´ bekanntester Kunde. Die Guinnessbücher mit seinen Rekorden gehören zur Grundausstattung ihres Studios.

Doch nicht nur wegen der geringen gesellschaftlichen Akzeptanz war der Einstieg in den Beruf für Andrea Venhaus nicht leicht: Fachinformationen gab es Ende der 80er lediglich in internationalen Magazinen, gerade einmal zwei Bücher waren zu dem Thema erschienen. Zeitschriften mit den neuesten Piercing-Trends gabs zudem ausschließlich in Sexshops – „mit breitem Kontaktanzeigenanteil, lacht Andrea Venhaus. In den Achtzigern waren Piercings nämlich eher etwas für unterhalb der Gürtellinie, wie Andrea Venhaus weiß. An sichtbaren Stellen habe sich damals so gut wie niemand tätowieren lassen. Das war wenn dann was für Punks oder Schwule.

Dass Piercings und Tattoos dann plötzlich so rasant populär wurden, ist vor allem einer großen Modewelle im Jahr `94 zu verdanken. Plötzlich waren Piercings etwas für die breite Masse, Schritt für Schritt wurden sie gesellschaftsfähig. Für Andrea Venhaus ein logischer Schritt: Der Impuls, seinen Körper zu verändern, ist schließlich so alt wie die Menschheit.

Danach kannste nen Arzt mit nem willigen OP-Team fragen

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Unauffällig, schnörkellos, bodenständig: Das Piercingstudio „Deep Metal“ glänzt mit Expertise und extravaganten Dienstleistungen. Vom Implantat bis zur Zungenspaltung – alles scheint hier möglich.

Irgendwann aber reichte Andrea Venhaus das Tätowieren und Pieren nicht mehr. 1995 spaltete sie ihre erste Zunge. Es kamen Cuttings dazu, sogenannte Brandings, Implantate zusammengefasst als Bodymodifications, welche sich innerhalb von 20 Jahren von einer absoluten Hinterhofszene zum heißen Trend im Bereich Körperschmuck entwickelt haben. Implantate sind für mich mit die interessantesten Bodymods, findet Venhaus, man kann sich schließlich so vieles implantieren lassen: Von Hörnchen, wie Rolf sie hat, bis hin zu RFID Chips, die Autos aufschließen oder Computer entsperren können.Beliebt seien außerdem neuerdings gerade bei Nerds in die Fingerkuppe implantierte Magnete, mit denen man beispielsweise mit verbundenen Augen sagen könne, durch welches Kabel in der Wand Strom fließe. Je nach Stärke könne man damit praktischerweise sogar in Zwischenräume gerutschte Schrauben wieder ans Tageslicht befördern.

Dagegen kämen manchmal aber auch Anfragen, bei denen Andrea Venhaus für ein paar Sekunden der Atem stocke. Hin und wieder werde sie beispielsweise gefragt, ob sie auch Kastrationen durchführe. Nein.Oder ob sie nicht das ein oder andere Fingerglied amputieren könne. Ebenfalls nein. Da könnten die dann mal nen Arzt mit nem willigen OP-Team nach fragen, ist dann meist meine Antwort. Denn das hat für mich echt nichts mehr mit Bodymodifications zu tun.

Schöne Menschen sind selten auch interessante Menschen

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Andrea Venhaus´Motto: „Lieber eine krumme Nase als eine, bei der ich frage, welcher Doc daran denn rumgewerkelt hat.“

Generell unterscheide sich ihr Beruf aber gar nicht so sehr von dem eines operierenden Arztes, findet Andrea Venhaus. Ob ich jetzt einen Herzschrittmacher implantiere, eine Silikonbrust oder ein Hörnchen das ist eigentlich kein nennenswerter Unterschied.Hygienevorschriften wie Sterilität und Mundschutz seien die gleichen, das Ambiente sei aber natürlich ein ganz anderes. Und: Meine Kunden unterscheiden sich in zwei Punkten ganz entschieden von den Patienten im Krankenhaus: Bei den Eingriffen sind sie immer bei Bewusstsein und im Normalfall kerngesund.

Außerdem seien ihre Kunden vor allem noch eins: nicht langweilig. Sie möge Menschen, denen man ihre Ecken und Kanten ansehe. Oberflächlich schöneLeute könnten einen noch so interessanten Charakter haben wahrscheinlich würde sie sie aufgrund ihres Äußeren noch nicht einmal kennenlernen. Und auch generell habe sie die Erfahrung gemacht, dass sich hinter schönen Menschen definitiv seltener auch ein interessanter Mensch verberge. Darum ist ihr Motto: Lieber eine krumme Nase als eine, bei der ich frage, welcher Doc daran denn rumgewerkelt hat.

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