Lokalderby: Die Leiden der jungen Chancenverwerter

Selten gab es ein Revierderby unter ungleicheren Voraussetzungen: Auf der einen Seite der souveräne Tabellenführer, für den Fußball-Deutschland derzeit ausschließlich Lob übrig hat. Auf der anderen Seite der Rivale aus Gelsenkirchen, dem besonders der neuerliche Kaufrausch seines Trainer mehr Spott als Anerkennung gebracht hat. Unser Reporter Jannik Sorgatz war unterwegs in der Stadt und am Stadion – und hat den ganz normalen Wahnsinn gefunden.

Derby Westfalenstadion

Foto: Jannik Sorgatz

Kaiserwetter: Sonnenschein. Fritz-Walter-Wetter: Regen. Derbywetter: stürmischer Wind, grauer Himmel und es nieselt. Während Dortmund rein wettertechnisch an diesem Freitag ziemlich weit unten ist, befindet sich die Stadt ansonsten im euphorisierten Ausnahmezustand. Wenn Google nicht nur Rundgänge durch Museen, sondern auch durch Enzyklopädien anbieten würde, dann wäre Dortmund unter „bekloppt“ zu finden – in Bezug auf den Fußball kann man einer Stadt kaum ein besseres Kompliment machen.

Einmal im Jahr sind die Verrückten bei den Bekloppten zu Gast. Borussia Dortmund gegen Schalke 04 – das Magazin 11 Freunde hat das Revierderby in der Liste der härtesten Fußball-Derbys der Welt auf Platz zehn gewählt. Die davor platzierten Einträge erinnern an Kriegsromane. Was sich dagegen heutzutage zweimal jährlich im Ruhrpott abspielt, sind Sticheleien und verbale Rivalität auf höchstem Niveau. Eine ausgeprägte Feindseligkeit, die noch am meisten aufkeimt, wenn der eine dem anderen eine Fahne klaut.

16:00 Uhr

In Dortmund versteckt der BVB-Fan seine Liebe wirklich nur ungern. Foto: Jannik Sorgatz

In Dortmund versteckt der BVB-Fan seine Liebe wirklich nur ungern. Foto: Jannik Sorgatz

Heruntergebrochen auf vier Farben, ist Dortmund gegen Schalke das Duell von Schwarz-Gelb gegen Blau-Weiß. Und deshalb beginnt der Derbytag vor einem nicht ganz so gewöhnlichen Einfamilienhaus. Irgendwann im Laufe der Hinrunde ist die weiße Fassade verschönert worden, so wird es zumindest der Hausherr sehen. Seitdem grüßt von der Hauswand ein übergroßes BVB-Logo. Nicht so richtig schön, aber mit eindeutiger Botschaft. Zu Hause scheint niemand zu sein. Zweimal geklingelt, keiner hat aufgemacht, die vertane Chance für den Hausherrn, sich für den unübersehbaren Liebesbeweis an seinen Verein zu rechtfertigen.

16:30

Am Theodor-Fliedner-Heim sind Schwarz-Gelb und Blau-Weiß noch fast gleichmäßig vertreten. Moment – Blau-Weiß? Ein Schalker? Ein schnelles „Hallo, Sie in dem blauen Trikot“, das klingt wie ein Vorwurf. Der Mann dreht sich um. Wir müssen reden. Weil draußen eine Brise weht wie an der Nordsee, nehmen wir Platz im Golf GTI mit den Schalke-Emblemen auf Tür, Motorhaube und Kofferraum. Andreas ist 30, kommt aus Bergisch-Gladbach und hat sich ganz alleine auf den Weg in die für Schalker verbotene Stadt gemacht.

Wie wird man überhaupt ein Königsblauer? Andreas sagt, da müsse er weiter ausholen. Er darf ausholen und es passiert das, was passiert, wenn man Leute ausholen lässt: Seine Antwort wird zu einer Art Lebensgeschichte. Freunde hätten ihn vor zehn Jahren mal mitgenommen ins Geißbockheim vom 1. FC Köln, ganz nett, aber nicht der Bringer. Dann guckte eines Tages Andreas die Sportschau und verliebte sich von jetzt auf gleich in ein einziges Wort: Schalke. Das muss Nick Hornby gemeint haben, als er in „Fever Pitch“, dem Evangelium der Fußballfans, schrieb: „Ich verliebte mich in den Fußball, wie ich mich später in Frauen verlieben sollte: plötzlich, unerklärlich, unkritisch und ohne einen Gedanken an den Schmerz und die Zerrissenheit zu verschwenden, die damit verbunden sein würden.“

Andreas nimmt die Rivalität zum BVB nicht allzu ernst. Ein netter Dortmunder sei ihm lieber als ein pöbelnder Schalker. Foto: Jannik Sorgatz

Andreas nimmt die Rivalität zum BVB nicht allzu ernst. Ein netter Dortmunder sei ihm lieber als ein pöbelnder Schalker. Foto: Jannik Sorgatz

Doch bei Andreas hat seitdem meist die Freude überwogen. „Der Fußball hat mir die Geborgenheit gegeben, die ich lange vergeblich gesucht habe“, sagt er vom Fahrersitz seines Autos und schaut wehmütig sein Trikot herunter. Unter Fans habe man immer ein gemeinsames Thema, einen gemeinsamen Nenner, der jeden auf angenehme Art und Weise gleich sein lasse.

Vom Spiel erwartet Andreas nicht allzu viel, „wenn, dann mit Anstand verlieren, nichts schön reden.“ So viel Bescheidenheit mag man ihm nicht so recht abnehmen. Wer 123 Euro im Internet für einen Sitzplatz bezahlt hat, der will doch mehr als anständig verlieren. Glück auf und wieder raus in den Sturm.

16:45 Uhr

Vor dem Westfalenstadion ist es knapp drei Stunden vor Spielbeginn so ruhig, wie es erst spät in der Nacht zum Samstag wieder werden wird. Noch wirkt das Polizeiaufgebot wie Hinterlassenschaften vom Dreh eines Actionfilms, der etwas zu dick aufträgt. Im Wasserwerfer-Wagen liest der Fahrer die Sport Bild.

Ein älterer Herr begutachtet das Polizeiaufgebot am Stadion. Foto: Jannik Sorgatz

Ein älterer Herr begutachtet das Polizeiaufgebot am Stadion. Foto: Jannik Sorgatz

Am eifrigsten sind um diese Zeit die Pfandsammler. Jutebeutel, Einkaufstüten, Rollkoffer, Einkaufs-, ja selbst Kinderwagen nehmen auf, was der Fan nach erledigter Trinkarbeit nicht mehr braucht. Rund 100 Fans stehen vor einem Kassenhäuschen und beten wohl innerlich, dass sich die Jalousie bald öffnen möge. Derbykarten – verzweifelt gesucht.

17:15 Uhr

Vor der Lenz-Stube an der Hohe Straße, der Kneipe der Dortmunder Ultras, stehen auf beiden Straßenseiten rund 100 Menschen. Fußballkultur im Kreuzviertel statt Rindercarpaccio mit Rucola. Alles ist relativ ruhig, aber das Flackern des Blaulichts passt dazu nicht so ganz. Von einem Foto aus ordentlicher Entfernung sind die Ultras nicht gerade begeistert. Mit einem „Verpiss‘ dich“ geht die Reise weiter in Richtung Innenstadt.

17:40 Uhr

Vor dem Limerick’s oder besser dort, wo bis vor einer Woche das Limerick’s war, wird auf der Kampstraße ein Film gedreht. Vor einer eigens installierten Frittenbude stehen im Scheinwerferlicht sowohl Komparsen in BVB- als auch in S04-Kluft. Der Mann, der dafür sorgt, dass nicht dauernd Unbeteiligte durchs Set laufen, will nicht sagen, was gedreht wird. Vermutlich ein Sat.1-Film mit Heino Ferch: „Das Derby“.

18:00 Uhr

Im Hauptbahnhof trifft man um diese Zeit dieselben Gestalten, die man an jedem beliebigen Freitagabend trifft, mit dem Unterschied, dass viele von ihnen Schwarz-Gelb tragen und das Polizeiaufgebot an einen G8-Gipfel erinnert. Leute, die mit Fußball nichts am Hut haben, laufen öfters kopfschüttelnd durch den Bahnhof. „Jedes Jahr derselbe Scheiß“, sagt eine junge Frau genervt.

Großer Bahnhof am Bahnhof: Es blieb nach Derby-Maßstäben ruhig. Foto: Jannik Sorgatz

Großer Bahnhof am Bahnhof: Es blieb nach Derby-Maßstäben ruhig. Foto: Jannik Sorgatz

Eigentlich soll hier um diese Zeit längst ein Sonderzug aus Gelsenkirchen angekommen sein. Doch der lässt auf sich warten. Selbst aus der S2 und dem RE3 steigt nur wenig Königsblau. So bleibt nur übrig, mit einer Mischung aus Entsetzen und Bewunderung das Polizeiaufgebot am Nordeingang zu begutachten. Mehr Einsatzwagen hätten wohl nicht auf den Vorplatz des Kinos gepasst.

In der Haupthalle herrscht weiter Derby-Normalität, der ganz normale Wahnsinn, insgesamt aber kaum der Rede wert. Am meisten fällt noch ein Fahrradfahrer auf, der ein ausländisches Pärchen anspricht und wissen will, woher die beiden denn kommen. „Kongo“, sagt sie, ihr Freund nickt. „Ok, and where is this?“, fragt der Mann weiter. „I don‘t have a world card in my head.“ Wünschen wir es ihm.

18:30 Uhr

Die U45 fährt heute ohne Halt zum Stadion. Die Fahrgäste an den anderen Haltestellen schauen ziemlich verdutzt, als die Bahn durchfährt. Es hat den Anschein, als bremse der Fahrer absichtlich weit herunter, um dann wieder unvermittelt Gas zu geben: „Verarscht!“

Am Hauptbahnhof sind mindestens so viele Bundespolizisten wie Fußballfans in die Bahn gestiegen. Eine Vierergruppe lässt ihre Einsätze der letzten Monate Revue passieren: Köln, Schalke, Gorleben, Dortmund. Würde Gorleben Bundesliga spielen, könnten es die Erzählungen munter reisender Auswärtsfans sein. Einer hat erschreckend viel Spaß, als er davon berichtet, wie Kollegen und er sich eine regelrechte Pfefferspray-Schlacht mit ein paar Hooligans geleistet hätten. Es fällt das Wort „geil“.

19:00 Uhr

Die Zahl der Leute mit einem Stück Pappkarton in der Hand hat in den letzten zwei Stunden rapide zugenommen – „Suche Karte“. Man könnte meinen, alle Schilder seien mit derselben Handschrift geschrieben, große Blockbuchstaben, leicht verwackelt, vermutlich vor lauter Verzweiflung, nicht einer von 80 720 Zuschauern zu sein.

Die Fans sind in Bewegung, die Polizei fährt die ruhige Schiene. Foto: Jannik Sorgatz

Die Fans sind in Bewegung, die Polizei fährt die ruhige Schiene. Foto: Jannik Sorgatz

Ein japanisches Fernsehteam steht etwas ratlos vor den Stadiontoren. Hat ihnen niemand gesagt, dass ihr Landsmann Shinji Kagawa wegen eines Mittelfußbruchs vermutlich bis zum Saisonende ausfallen wird? Immerhin ist ihnen der Dank der BVB-Fans gewiss. „He‘s the best, he‘s the best“, ruft einer im Vorbeigehen und verbeugt sich regelrecht, „thank you very much.“

Dann kommen die Mannschaftsbusse, Schalke auf der Pole Position. Felix Magath lächelt hinter der dunklen Scheibe, in der sich das Blaulicht der Polizeiwagen spiegelt. Der BVB fährt drei Minuten später vor und erhält den Applaus, der dem Schalker Bus, euphemistisch ausgedrückt, verwehrt blieb.

19:45 Uhr

Ins Strobel’s, die Kneipe im Schatten des Stadions, kommen mittlerweile nur noch Leute, wenn welche rausgehen. Die Stimmung ist blendend, wenig verwunderlich beim Tabellenführer. Dortmund ist Erster mit elf Punkten Vorsprung, Schalke hat exakt halb so viele Zähler gesammelt. Dortmunder ist der Klub, bei dem die Fernsehteams Schlange stehen, um Beiträge zu drehen, in denen es von Begriffen wie „Wunder“ oder „Wahnsinn“ nur so wimmelt. Schalke ist der Klub, dessen Trainer seit seinem Amtsantritt vor eineinhalb Jahren im Schnitt alle 17 Tage einen Spieler verpflichtet hat. In Dortmund haben die Jungstars Fachabitur, auf Schalke müssen sie auf Anraten des Trainers die Schule abbrechen. Hochgefühl auf der einen, Hohn auf der anderen Seite.

20:30 Uhr

Nach der Bratwurst ist vor dem Anpfiff. Es geht los. „Deutscher Meister wird nur der BVB“ – so viel zum scheinbar verbotenen „M-Wort“. Doch nach nur sieben Minuten möchte man ihnen ohne Zweifel Recht geben. Götze, Kuba, Hummels und der immer gleiche Gegner Manuel Neuer. Dass es nach einer Viertelstunde noch 0:0 steht, ist allein dem Schalker Keeper und Blaszczcykowskis kleiner Kuba-Krise vor dem Tor zu verdanken.

Schalke kommt vor dem BVB an. Auf dem Spielfeld war es nachher meist andersherum. Foto: Jannik Sorgatz

Schalke kommt vor dem BVB an. Auf dem Spielfeld war es nachher meist andersherum. Foto: Jannik Sorgatz

20:50 Uhr

Dass nebenan das größte Stadion Deutschlands steht und mit 80 000 Menschen gefüllt ist, spürt man im Biergarten des Strobel’s rein gar nicht. Was jedoch nicht daran liegt, dass das Westfalenstadion so schalldicht oder die Stimmung dort so schlecht wäre. Vor den zahlreichen Flachbildfernsehern ist es einfach zu laut, um irgendwelche Geräusche aus dem Stadion zu vernehmen. Die Stimmung steht der in der Kurve in Nichts nach: Gesänge, dezenter Grasgeruch und Pöbeleien auf halbwegs kreativem Niveau.

21:15 Uhr

Voll war die Hütte nicht nur im Stadion, sondern auch im Biergarten nebenan. Foto: Jannik Sorgatz

Voll war die Hütte nicht nur im Stadion, sondern auch im Biergarten nebenan. Foto: Jannik Sorgatz

Noch immer steht es 0:0, was zur Pause an ein Wunder grenzt. Der FC Schalke hat sich längst aus dem Vereinsregister gelöscht, heißt jetzt Manuel Neuer e.V. Die Dortmund-Fans in der Kneipe hatten in der ersten Halbzeit öfter den Torschrei auf den Lippen als Schalke den Ball.

Eine Fast-Prügelei sorgt für ein nicht ganz so schönes Pausenprogramm. Wagemutig hat sich ein Schalker mit seiner Freundin unter die Schwarz-Gelben gemischt. Doch er sitzt mit seiner abenteuerlich bedruckten Jeans und der weißen Jacke mit der Aufschrift „Hooligan“ eher schüchtern in der Ecke. Die Drecksarbeit übernimmt seine Freundin, was sie so attraktiv wirken lässt wie ein Stück Harzer Roller.

21:40 Uhr

Erst hatten die Schalker Neuer, dann kam auch noch Pech dazu. Zehn Minuten nach Wiederbeginn trifft Barrios den Pfosten. Schaut man nicht auf den Fernseher, sondern lediglich in die Gesichter der Fans, dann sehen sie inzwischen aus wie in der CDU-Zentrale nach Bekanntgabe der NRW-Wahlergebnisse. Im Gegenzug meldet sich Schalke mit der ersten Torchance durch Farfan zu Wort. Vor Schreck schlittert die schwarz-gelbe BVB-Koalition ganz kurz in eine Krise.

22:15 Uhr

Im Hintergrund ist der Signal-Iduna-Park zu sehen. Im Biergarten selbst spürt man davon wenig. Foto: Jannik Sorgatz

Im Hintergrund ist der Signal-Iduna-Park zu sehen. Im Biergarten selbst spürt man davon wenig. Foto: Jannik Sorgatz

Der große Sprung in der Zeit bis hin zum Abpfiff ist berechtigt. In der Schlussphase ist das Spiel, wie Kommentator Marcel Reif meint, „nur noch ein Derby“. Vorher war es das Spiel des Meisters in spe gegen den großen Rivalen, den nur sein Torwart vorm Untergang bewahrte. Gegen den eingewechselten Lewandowski war Neuer mal wieder in Weltklasse-Manier aus dem Tor geeilt und hatte zwanzig Meter vor seinem designierten Arbeitsbereich glänzend gerettet.

Vermutlich wäre es besser gewesen, Lewandowski hätte nicht aufs Tor, sondern außerhalb des Strafraums auf Neuers Hände gezielt. Dann wäre der BVB um ein Problem ärmer, Schalke – in der 78. mit den besten Chance durch Jurado – um eins reicher gewesen. So ist es am Ende wenig verwunderlich, dass Götze kurz vor Schluss von Neuer so bestürmt wird, dass der Dortmunder Youngster kurz die Orientierung verliert und nur den Pfosten trifft.

22:25 Uhr und Ende

In NRW hat Königsblau leicht die Nase vorn. Deutschlandweit dürfte es knapp der BVB sein. Grafik: www.infas-geodaten.de

In NRW hat Königsblau leicht die Nase vorn. Deutschlandweit dürfte es knapp der BVB sein. Grafik: www.infas-geodaten.de

Natürlich ist es ein unverdientes 0:0, mit dem das Derby endet. Die meisten anderen Sportarten sind auf Nummer sicher gegangen, dass stets genügend Tore fallen, um ein Unentschieden möglichst unwahrscheinlich zu machen. Oder aber sie spielen so lange, bis ein Sieger feststeht. Fußball ist dagegen die Sportart, bei der 22 Spieler 90 Minuten lang vor 160 000 Augenpaaren anlaufen können – und am Ende ist man keinen Schritt weiter gekommen.

Dortmund 0, Neuer 0 oder auch 0:0 für Schalke – schon am kommenden Mittwoch wird Manuel Neuer wieder im Westfalenstadion auflaufen. Dann trägt er das Trikot der Nationalmannschaft gegen Italien. Zigtausend Dortmunder werden sich mit den Glanztaten des Torwarts weitaus besser anfreunden können.

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