Im neuen Glauben angekommen

Die liberale jüdische Gemeinde „haKochaw“ (Stern) in Unna feiert Chanukka, das Lichterfest. Es wird gebetet, gesungen, getanzt und viel gelacht. Natürlich dürfen auch gutes Essen und Wein nicht fehlen. Unter den rund vierzig Gläubigen herrscht eine ausgelassene, freudige Stimmung. Auch bei Wendy Wagner. 19 Jahre, blonde lange Haare, strahlende Augen. Eigentlich eine ganz normale junge Frau, die da zwischen den anderen Gemeindemitgliedern sitzt. Aber die Geschichte, die Wendy mit der kleinen jüdischen Gemeinde verbindet, ist eine ganz Besondere. Auf dem Papier ist sie noch keine Jüdin, aber das soll sich in diesem Jahr ändern. Die 19-jährige Studentin möchte zum Judentum konvertieren. Warum? Diese Frage wurde ihr schon so oft gestellt. Wendys Antwort: „Weil ich hier angekommen bin.“

Seit über zwei Jahren kommt Wendy Wagner regelmäßig zu den Gottesdiensten der liberalen jüdischen Gemeinde in Unna.

Seit über zwei Jahren kommt Wendy Wagner regelmäßig zu den Gottesdiensten der jüdischen Gemeinde in Unna. Teaserfoto: Viktor Schwabenland/pixelio.de, Fotos: Anne Wunsch

Mit 13 Jahren erfuhr Wendy zum ersten Mal, dass sie jüdische Vorfahren hat. Ihr Großonkel hatte Ahnenforschung betrieben und herausgefunden, dass die Familie eine jüdische Vergangenheit hat. So ist Wendy zum ersten Mal mit dem Judentum in Kontakt gekommen. Sie fing an, viel zu lesen und war sofort fasziniert, neugierig. Sie wollte mehr über die jüdische Religion erfahren. „Nach und nach habe ich dann irgendwie gemerkt, dass die Ansichten, die das Judentum vertritt, auch genau meine Ansichten sind. Ich habe darin etwas gefunden, wonach ich erst mal gar nicht gesucht hatte“, sagt Wendy heute. Schritt für Schritt näherte sie sich dem jüdischen Glauben an. „Ich wollte nicht sofort meine alte Religion über Bord werfen. Ich war sehr aktiv in unserer evangelischen Gemeinde. Das war ein längerer Prozess.“ Nach mehreren Gesprächen mit ihrem Pfarrer, war für Wendy aber irgendwann klar, dass die christliche Religion nicht die Antworten auf ihre Fragen geben kann. So wurde der Wunsch, zu konvertieren, immer größer. Sie stellte ihre Ernährung um, begann koscher zu essen. Mit 16 suchte Wendy dann den Kontakt zur jüdischen Gemeinde.

„Jetzt habe ich ganz, ganz viele Mütter“

Die Gemeinde ist für Wendy wie eine Familie.

Die jüdische Gemeinde ist für Wendy wie eine Familie.

Nach einem gescheiterten Kontakt zur jüdischen Gemeinde in Dortmund, erkundigte sie sich bei der liberalen Gemeinde in Unna, die sich gerade erst neu gegründet hatte. „Ich wurde sofort so herzlich empfangen und dann bin ich gleich in der nächsten Woche zum Gottesdienst gegangen. Da habe ich von Anfang bis Ende eigentlich nur geheult“, sagt Wendy mit glänzenden Augen und einem Lächeln. „Es war einfach so bewegend, wenn man so lange auf etwas hofft und dann plötzlich das Gefühl hat, krass, ich bin jetzt hier.“ Seit diesem Tag ist die Gemeinde ihre zweite Familie geworden.

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Wir feiern zu Hause „Weihnukka“

Für das Chanukka-Fest haben die Gemeindemitglieder ein Buffet vorbereitet.

Für das Chanukka-Fest haben die Gemeindemitglieder ein Buffet vorbereitet.

Wendys Eltern haben mittlerweile den Wunsch ihrer Tochter, Jüdin zu werden, vollkommen akzeptiert. „Die ersten zwei Jahre dachten meine Eltern, das wäre eine Phase wie, ich bin jetzt mal Vegetarierin, und das geht dann wieder vorbei. Aber dann haben sie irgendwann eingesehen, dass es nicht mehr vorbei geht.“ Eine besondere Umstellung für die ganze Familie war die Ernährung. Seit Wendy sich koscher ernährt, isst sie zum Beispiel Milchprodukte nicht zusammen mit Fleisch. Auch Schweinefleisch hat sie von ihrem Speiseplan gestrichen. Weil Wendy aber viel Unterstützung von ihrer Familie erhalten hat, war auch das kein Problem. „Ich werde nie vergessen, wie mein Vater von der Pommesbude für alle Currywurst mitgebracht hat. Nur für mich hatte er dann extra etwas anderes geholt. Da wusste ich, jetzt haben sie es akzeptiert.“ Darüber ist Wendy sehr glücklich, weil sie weiß, dass das nicht selbstverständlich ist. Sie kennt auch Geschichten von Menschen, deren Familie und Freunde sich abgewandt haben, weil sie zum jüdischen Glauben übergetreten sind. „Da habe ich wirklich Glück gehabt.“ Extra für die Weihnachtszeit, hat sich Wendys Familie etwas ganz Besonderes überlegt, um jüdische und christliche Traditionen zu vereinen: Sie feiert „Weihnukka“.

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Auch ihre Freunde haben Wendys neue Religion relativ schnell akzeptiert. „Klar kommt dann mal ein Spruch, aber das macht mir nichts aus. Das nehme ich mit Humor. Ansonsten sprechen wir da eigentlich kaum drüber.“ Die junge Studentin hat kein Problem damit, ihr modernes Leben mit ihrem Glauben zu vereinen. „Ich bin noch dabei, den richtigen Lebensstil im Judentum für mich zu finden, vor allem bei den Speisegesetzen. Es gibt verschiedene Formen, wie streng man diese Regeln einhält. Aber ich glaube, ich werde da fast konservativer sein, als viele andere in unserer Gemeinde.“ Das habe damit zu tun, dass sie die jüdische Religion für sich selbst stärker im Alltag spüren möchte. Auch für das Beten hat Wendy einen eigenen Weg gefunden, um es mit ihrem  Studentenleben zu verbinden. „Ich bete nicht dreimal täglich, sondern ich sage Singsprüche. Da gibt es zum Beispiel den Segen zum Händewaschen oder den Segen über das Brot. Das begleitet mich meistens den ganzen Tag.“

Davidstern als Erkennungsmerkmal

Wendy trägt den Davidstern jeden Tag bei sich.

Wendy trägt den Davidstern jeden Tag bei sich.

Wendy selbst geht mit ihrer Religion sehr offen um. Wer sie nach ihrem Glauben fragt, bekommt Antworten. Und wer sich auskennt, kann sofort erkennen, dass sie dem jüdischen Glauben sehr nahe steht. Sie trägt eine Halskette mit einem Davidstern als Anhänger. Manchmal erlebt sie, dass Leute befremdlich darauf reagieren. Meistens knüpft sie darüber jedoch neue Kontakte, wie in ihrem Studium an der Uni in Münster. Da wurde sie von anderen jüdischen Studenten angesprochen, jetzt wollen sie gemeinsam eine jüdische Hochschulgruppe gründen.

„Ich habe hier noch etwas zu erledigen“

Beim Chanukka-Fest spielt Wendy mit den Kindern Dreidel, ein typisch jüdisches Spiel.

Beim Chanukka-Fest spielt Wendy mit den Kindern Dreidel, ein typisch jüdisches Spiel.

Genauso engagiert ist Wendy auch in der Gemeinde, vor allem in der Kinder- und Jugendarbeit. Ihr neuestes Projekt: Ein Austausch mit einer jüdischen Gemeinde aus den USA. Mit etwas leiserer Stimme verrät Wendy dann noch, dass sie bald ein höheres Amt in der Gemeinde bekommen soll. „Ich habe schon gehört, dass ich nach meinem Übertritt der Vorleser werden soll. Bei Gottesdiensten lese ich dann den Text auf hebräisch aus der Tora vor. Das macht mich sehr stolz.“ Um ihr Hebräisch noch weiter zu verbessern, macht sie zur Zeit einen Kurs an der Universität. Außerdem nimmt sie seit über einem Jahr Religionsunterricht bei einem Rabbiner aus Berlin, der regelmäßig die kleine Gemeinde in Unna besucht. Er bereitet Wendy auf den Übertritt und die damit verbundene Prüfung vor. Die ehrgeizige Studentin hofft, dass sie in diesem Jahr auch offiziell Jüdin wird. „Ich möchte die Geschichte meiner Familie weiterleben, weil das für mich nicht abgeschlossen ist. Ich weiß nicht, ob das was mit Mystik oder so zu tun hat, damit kenne ich mich nicht aus. Aber ich habe das Gefühl, dass ich hier noch etwas zu erledigen habe. Ich bin jüdisch, ich weiß das.“

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