Mein Kreuzberg, dein Kreuzberg

Hipster, Punks, Hippies, Anarchisten und randalierende Linksradikale – am 1. Mai treffen sie in Berlin Kreuzberg alle zusammen. Die einen bei der Maidemonstration, die anderen beim „Myfest“, das ein Zeichen gegen Gewalt bei der Demonstration setzt. Dieses Jahr verschwimmen die Grenzen.

Rauchschwaden steigen auf, es klirrt bei jedem Schritt und manchmal gibt es einen Knall: der 1. Mai in Berlin Kreuzberg. Aber der Rauch kommt nur von verbrannten Würstchen und nicht von brennenden Autos. Das Klirren kommt von platt getretenen Bierflaschen und nicht von eingeschlagenen Schaufenstern. Nur das Knallen sind wie jedes Jahr von Feuerwerkskörper und Pyrotechnik.

Seit 1987 ist der 1. Mai in Berlin Kreuzberg ein Tag der Krawalle, der Straßenschlachten und Polizeieinsätze. Traditionell findet eine Demonstration der linken und autonomen Szene statt, die zusammen mit großen Polizeieinsätzen oft gewaltsam und mit vielen Festnahmen – gerechtfertigten und ungerechtfertigten – endet. Als Reaktion auf diese Straßenschlachten initiierten Anwohner gemeinsam mit dem Bezirksamt und verschiedenen Vereinen 2003 das „Myfest“. Dessen Ziel ist es, die Straßenschlachten zu deeskalieren und stattdessen zu feiern.

Kreuzberger gegen Kreuzberger, Hipster und Gemäßigte gegen Radikale, die mit Alkohol und Musik das Steinewerfen verhindern wollen. Es ist ein einziges großes Stadtteilfest mit Partygästen aus ganz Deutschland und der Welt. Über 40.000 Menschen kamen zum „Myfest“, 19.000 demonstrierten und rund 6.200 Polizisten waren in ganz Berlin im Einsatz.

Bretter vor den Fenstern und gesperrte U-Bahnstationen

Der Görlitzer Park am 1. Mai

Der Görlitzer Park am 1. Mai. Foto: Leonie Gürtler

Auf dem Weg nach Kreuzberg sieht man mit Brettern verriegelte Schaufensterscheiben und geschlossene Rollläden. Alles aus Angst vor den Steinen. Wenn man überhaupt dort hinkommt: Mehrere U-Bahnstationen sind wegen Überfüllung gesperrt und die meisten Busse fahren überhaupt nicht. Die Straßen sind gefüllt mit Fußgängern und Bierflaschen, da fährt auch kein Auto herum, nicht einmal Fahrräder. Nur ein Porsche aus Luxemburg ist scheinbar irgendwo falsch abgebogen und in Kreuzberg gelandet. Schon vormittags werden Restaurants zu Diskotheken, WGs öffnen ihre Küchenfenster, bieten Cocktails an, Anwohner verkaufen an kleinen Ständen türkische Spezialitäten.

Menschen auf dem Dach im Görlitzer Park

Feiernde auf dem Dach im Görlitzer Park. Foto: Leonie Gürtler

Im Görlitzer Park sieht es aus wie bei einem Festival – nur die Musik ist zu leise: provisorische Essens- und Getränkestände, Menschenmassen, die kaum Platz finden, so dass einige sogar auf die Dächer klettern und Hipster, die auch mit Obdachlosen verwechselt werden könnten.

Normalerweise ist der „Görli“ der Park der Drogendealer – heute erobert Kreuzberg ihn zurück.

Eine Demonstration – so friedlich wie lange nicht mehr 

Der Polizei-Einsatz am 1. Mai

Der Polizei-Einsatz am 1. Mai. Foto: Leonie Gürtler

Vor dem Park steht die Polizei, im Park ist sie nicht zu sehen. „Die sahen ganz schön ernst aus. Ich dachte die ganze Zeit: ‚Ich habe doch nichts getan, schaut mich nicht so an!“‘ , erzählt Miriam aus Bielefeld, die auch schon letztes Jahr dabei war. Seit Jahren versucht die Polizei, die Demonstrationen zu deeskalieren. Das Konzept der Zurückhaltung funktioniert dieses Jahr. Die Polizei ist fast nicht zu sehen und steht nur an den zentralen Kreuzungen, am Anfang und am Ende der zentralen Straßen, aber nicht mittendrin. Die Fahrzeuge und Wasserwerfer stehen so weit am Straßenrand wie möglich oder sogar zwei Parallelstraßen entfernt. Sie lassen die Menschen feiern und schreiten nur ein, wenn es nötig ist.

Auch die Demonstration um 20 Uhr verläuft verhältnismäßig ruhig. Zwar werden Farbbeutel geworfen, einige Steine fliegen und Spiegel werden von Autos abgebrochen, aber die Schäden sind gering und es gibt weniger Verletzte als die letzten Jahre. Viele der Demonstranten mischen sich nach der Demonstration noch in die Menge und feiern das „Myfest“ mit. Eigentlich ironisch. In anderen Städten wie Hamburg und Weimar sind die Ausschreitungen dagegen größer.

Betrunkene, Musik und Plastikbecher

Restaurant-Party

Party in Berlin Kreuzberg. Foto: Leonie Gürtler

Je später es wird, desto lauter wird die Musik. In ganz Kreuzberg sind Bühnen aufgebaut und die Mischung reicht von Elektro-Rock über Techno, Pop und Salsa bis hin zu Reggae. Vor den Bühnen bilden sich Menschentrauben, durch die kein Durchkommen ist. Zwischen den Bühnen liegen Müllsäcke, zerbrochene Plastikbecher, es stinkt nach Bier und Urin. Die Betrunkenen räumen das alles heute Nacht bestimmt nicht mehr auf. „Wir waren total überrascht: Am nächsten Morgen sind wir nochmal dort entlang gelaufen und es sah aus als wäre nie etwas passiert“, erzählt Miriam lachend.

Der 1. Mai in Kreuzberg ist von der politischen Straßenschlacht zur riesigen Party geworden.

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