Duell am Donnerstag: Ist die Zusammenarbeit von EU und Türkei ein Fehler?

duell sinan richard

In der Flüchtlingskrise erhält die Türkei drei Milliarden Euro von der EU. Damit soll sie für bessere Lebensbedingungen der Flüchtlinge in der Türkei sorgen und den Zustrom in die EU begrenzen. Die Zusammenarbeit ist umstritten. Ist sie mit den Werten der Europäischen Union überhaupt vereinbar? Oder haben die Regierungschefs schlicht keine andere Wahl?

„Eine Lösung ohne die Türkei? Niemals!“

findet Sinan Krieger.

Wir haben keine Zeit! Keine Zeit für Zweifel, keine Zeit für Misstrauen und erst recht keine Zeit für Eitelkeiten. Die Europäische Union steht vor der größten Aufgabe in ihrer Geschichte und vermittelt zur jetzigen Zeit alles. Außer Geschlossenheit. Wo ist der europäische Geist? Wo ist das ständig propagierte Wir-Gefühl, in einem Staatenverbund, der zwar dieselbe Währung teilt, aber jegliche Rücksicht vermissen lässt – Wir sind ein Flickenteppich!

Viktor Orban war der erste Ministerpräsident, der sein Land einzäunte. Die Kritik an der ungarischen Regierung war immens, doch mehr und mehr wich diese Empörung der Frage: Was ist mit uns? Slowenien zog nach, auch Mazedonien will einen Zaun, unser direkter Nachbar Österreich sieht auch keine andere Wahl und wir haben still und heimlich das Dublin-Verfahren wieder eingeführt. „Solange die EU–Außengrenzen nicht gesichert sind, müssen wir uns selber helfen“ – der Grundtenor ist deutlich wie alarmierend zugleich. Die EU braucht die Türkei, ob sie will oder nicht.

Wo ist die Alternative?

Ja, das Verhältnis zur Türkei ist – sagen wir mal – angespannt. Seit Jahren stockt das EU- Beitrittsverfahren. Man könnte fast meinen, dass die Türkei gar nicht so recht weiß, was sie will. Ost oder West, das ist hier die Frage. Die Antwort darauf bleibt zwar ungewiss, verfolgt man in den letzten Monaten allerdings Recep Tayyip Erdogan, wird klar, dass die türkische Regierung vor allem eines sein will: dominant.

Die Rolle, die dieses Land zurzeit dabei spielt, könnte Erdogan gar nicht besser passen. Als Zwischenstaat, der Europa und Asien, West und Ost, ganz sicher auch arm und reich trennt, genießt er eine Ausnahmestellung. Kein Land wird von mehr syrischen Flüchtlingen aufgesucht und kein anderes Land lässt diese auch so schnell durch. Es wäre zu einfach mit dem Finger jetzt auf Erdogan zu zeigen und dem NATO-Partner fehlende Loyalität vorzuwerfen. Immerhin sind es die Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, die permanent kritisiert werden. Flüchtlinge sollen trotzdem dort bleiben? Ich dachte immer, dass alle Menschen gleich sind. Vielleicht habe ich mich aber auch nur getäuscht.

Die entscheidende Variable

Die traurige Wahrheit ist doch die: Kein Staat freut sich über die Vielzahl an Flüchtlingen. Selbst Österreich lädt die Neuankömmlinge lieber an der bayerischen Grenze ab. Die Türkei macht Dasselbe – im größeren Stil. Der erste Teil der Flüchtlinge, der die türkisch-syrische Grenze überschreitet, findet seinen Weg über die sogenannte Balkan-Route nach Deutschland, Österreich oder Schweden. Der zweite Teil wird mit dem Schiff nach Griechenland verfrachtet. Es gibt wohl keinen lukrativeren Ort für Schlepper als die türkische Westküste. Was bleibt ist eine hilflose EU, völlig überforderte Grenzstaaten und menschenunwürdige Aufnahmestationen. Eine Lösung ohne die Türkei? Niemals!

Einigt euch!

Glücklicherweise haben das die EU-Politiker erkannt. Merkel, Faymann und Hollande sprachen sich allesamt für eine gemeinsame Lösung aus. Daran wird auch der Abschuss des russischen Flugzeugs nichts ändern. Erdogan hat seine Kooperationsbereitschaft ebenfalls verdeutlicht. Zusammen mit Tsipras will er mit Merkel sprechen. Rund 3 Milliarden Euro sollen in den nächsten zwei Jahren in die Türkei fließen. Als Gegenleistung verspricht Erdogan ein härteres Vorgehen gegen Schlepperbanden, die Sicherung der türkisch-syrischen Grenze und eine Verbesserung der Lebensbedingungen für Flüchtlinge, die in der Türkei leben. Es wird auch höchste Zeit!

 

„Die EU verliert ihre Vorbildfunktion“,

findet Richard Brandt.

Die Europäische Union steht weltweit für Demokratie, für Menschenrechte und für Meinungsfreiheit. Seit Ausbruch der Flüchtlingskrise geraten diese Werte jedoch zunehmend ins Hintertreffen. Statt gemeinschaftlich an einer Lösung der aktuellen Problematik zu arbeiten, zerstreiten sich die EU-Regierungschefs an den Aufnahmekapazitäten.

Und sie setzen noch einen drauf: Denn die Türkei soll es nun richten. Das Land, in dem Meinungsfreiheit unterdrückt wird, in dem die kurdische Bevölkerung mit Waffen bekämpft wird und in dem die Justiz nicht frei, sondern zugunsten des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner Partei AKP handelt. Das alles scheint jetzt geflissentlich von der EU übersehen zu werden. Noch besser: Die Türkei bekommt sogar eine Belohnung in Form von VISA-Freiheit und drei Milliarden Euro zur Betreuung der Flüchtlinge.

Einschnitt für türkische Demokratiebewegung

Mit ihrem Vorhaben sendet die EU auch ein falsches Signal an die türkischen Bürger und Aktivisten. Sie kämpfen öffentlich für Menschenrechte und Demokratie in ihrem Land, nach dem Vorbild der europäischen Nachbarn. Sie bringen Mut auf in einem Land, in dem sie für ihren Protest direkt ins Gefängnis wandern könnten. Wie sollen diese Demonstranten in Zukunft weiter diesen Mut aufbringen, wenn die Europäische Union ihre Werte für die Zurückhaltung der Flüchtlinge an der türkischen Grenze opfert? Die Vorbildfunktion geht damit komplett verloren.

Mögliche Unterstützung des Islamischen Staats

Der hauptsächliche Grund für die Flucht vieler Menschen ist der Islamische Staat (IS), der in Syrien und dem Irak für Tod und Terror sorgt. Wer die Bilder aus Syrien im Fernsehen sieht, kann verstehen, warum die Menschen ihre Heimat verlassen müssen.

Die Türkei steht unter Verdacht, diesen Terror zu unterstützen. Türkische Journalisten berichteten kurz vor dem großen EU-Türkei-Gipfel, der am Sonntag in Brüssel stattfand, von möglichen Waffenlieferungen der Türkei an die Terrormiliz. Kurzerhand wurden die zwei Journalisten verhaftet, nachdem Präsident Erdogan persönlich Anzeige wegen Spionage und der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung erstattet hatte. Und jetzt soll er finanzielle Unterstützung bekommen, um die Menschen zu betreuen, die vor dem Islamischen Staat fliehen, von dem er aber selbst profitieren könnte? Das ist doch paradox.

Grenzschließungen sind keine Lösung

Klar ist, die Flüchtlinge werden sich von diesen Maßnahmen nicht aufhalten lassen. Sie möchten in einem Land leben, in dem Freiheit und Demokratie herrschen: Werte, die die Türkei im Moment mit Füßen tritt. Grenzschließungen sind dabei keine Lösung der Flüchtlingsproblematik, sondern maximal ein Ergebnis des Scheiterns der Europäischen Union.

 

das-duell-feederFoto: stockxchng/bizior, S. Hofschlaeger/pixelio.de, Montage: Brinkmann/Schweigmann 
Teaserfoto: flickr.com/Marco Verch

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