Wenn Behinderte sich lieben

Wie lernt man jemanden kennen? Wo kann man ungestört sein? Und wie war das noch mal mit der Verhütung? Für Menschen mit Behinderung ist Sexualität genauso ein Thema wie für alle anderen auch. Und doch ein bisschen anders.

Eine geräumige Zweizimmerwohnung in der Nähe des Borsigplatzes. Vierter Stock, die Abendsonne scheint ins Wohnzimmer und beleuchtet Fotos von Gartenfesten und dem BVB-Maskottchen an der Wand. An der Tür zum Schlafzimmer hängt der Bundesliga-Spielplan. Hier wohnen Steffi und Manuel, 28 und 30 Jahre alt. Sie arbeitet auf einem Reiterhof, er ist Hausmeister. Zwei bis dreimal in der Woche kommen ihre Betreuer von der Dortmunder Lebenshilfe vorbei, denn Steffi und Manuel haben beide eine Lernbehinderung. Beim sogenannten ambulant-unterstützten Wohnen bekommen sie Hilfe beim Organisieren ihres Alltags, führen aber ansonsten ein normales, eigenständiges Leben. Das war nicht immer so.

Strenge Regeln im Wohnheim

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Steffi und Manuel sind seit 2003 ein Paar. Beide haben eine Lernbehinderung. Fotos: Henrike Wiemker. Teaserbild: Andreas Dengs/pixelio.de

Kennen gelernt haben sich Steffi und Manuel schon 2003, zusammen gezogen sind sie erst 2007. Manuel wohnte in einer Männer-WG, Steffi zuerst bei ihren Eltern, dann in einem Wohnheim. Wenn Manuel sie dort besuchte, musste er abends spätestens um halb zehn wieder gehen, nur am Wochenende durfte er auch über Nacht bleiben. Diese Einschränkungen war Steffi irgendwann Leid. „Das war mir einfach zu blöd. Da bin ich abgehauen!“ Wenn Steffi davon erzählt, wird sie ganz energisch. Erst zog sie in der Männer-WG ein, dann mit Manuel in eine eigene Wohnung. Die Regeln sind nicht in allen Wohnheimen so streng, trotzdem ist die Privatsphäre eingeschränkt.

Eltern und Betreuer, gesetzliche Vertreter und Ärzte sind bei Behinderten oft stark ins Privatleben involviert. Allein das macht Sexualität bei ihnen zu einem besonderen Thema. Trotzdem haben sie natürlich immer auch ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen. Nadine Skiba ist Mitarbeiterin in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung in Dortmund Bodelschwingh. Dort wohnen 24 Menschen zwischen 22 und 67 Jahren, aufgeteilt auf drei Gruppen. Unter ihnen ist auch ein homosexuelles Paar, zwei Männer. In ihren Zimmern dürfen die Bewohner machen, was sie wollen. „Aber wenn man bei den beiden klopft, zum Beispiel weil es Abendessen gibt, sagen sie immer ‚Herein'“, erzählt Skiba, „ganz egal, was sie gerade machen. Da sieht man dann auch schon mal Sachen, die man eigentlich nicht sehen wollte.“ Verbieten könne sie den beiden nichts, auch wenn die Eltern des einen Mannes gegen seine Beziehung sind. Trotzdem räumt Skiba ein: „Ich weiß nicht, wie es wäre, wenn wir sehr konservative Mitarbeiter hätten. Das wäre wahrscheinlich nicht so einfach. Aber wir sehen das zum Glück alle ganz entspannt.“

Ungewollt schwanger

Worüber homosexuelle Paare nicht nachdenken müssen, das passierte bei Steffi und Manuel nach drei Jahren Beziehung. Unter den Fotos an der Wohnzimmerwand sind auch einige von Steffi mit einem Baby auf dem Arm. „Wir haben einen gemeinsamen Sohn“, erzählt sie. „Noah Niklas. Er ist jetzt sieben.“ Steffi wurde schwanger, als sie 20 war. „Das war nicht so geplant. Aber wir haben nicht verhütet. Eigentlich dumm, mit 20 hätte ich das ja besser wissen müssen. Aber ich hab‘ halt dabei in der Schule nie aufgepasst, hab‘ immer blau gemacht.“ Steffi wohnte damals noch bei ihren Eltern und merkte zwar, dass sie schwanger war, traute sich aber nicht, jemandem davon zu erzählen. Irgendwann sprach sie mit ihrer Schwester. Die besorgte ihr einen Schwangerschaftstest, der ein eindeutiges Ergebnis brachte. Steffi war zu diesem Zeitpunkt schon im 7. Monat.

Noah Niklas lebte zuerst bei Steffis Eltern, heute wohnt der gesunde Junge im Kinderheim. Seine Eltern sehen ihn nur alle zwei Monate. „Es tut mir im Herzen weh, dass er nicht hier bei uns leben kann“, sagt Steffi. Doch das Paar hat die Hoffnung aufgegeben, ihren Sohn zu sich zu holen, berichtet Manuel. „Steffis Eltern trauen uns das nicht zu, dann das Jugendamt… Was wir alles beachten und erfüllen müssten. Auf den Stress hab‘ ich keine Lust“, sagt er und klingt, als habe er schon viele Diskussionen und Streits über das Thema geführt. steffi-manuel_behinderung_01

Kennen gelernt haben sich Steffi und Manuel bei der Arbeit in der Werkstatt. Beide hatten davor schon andere Beziehungen. Jetzt ist es aber „die große Liebe“.

Verhütung und Aufklärung sind Fragen, die bei der Arbeit mit Behinderten immer wieder auftauchen. Oft sei aber schon das Kennenlernen eines Partners ein Problem, berichtet Gabi Hennig-Gruber, die den Bereich Ambulantes Wohnen bei der Lebenshilfe Dortmund leitet. „Das ist absolut immer ein Thema bei uns“, sagt Hennig-Gruber. „Viele hätten gerne einen Partner, aber es ist schwer, andere kennen zu lernen. Und dann auch den Kontakt aufzubauen.“

Teilweise klappt es über Ausflüge und Freizeitangebote der Lebenshilfe, teils am Arbeitsplatz in der Werkstatt. So war es bei Steffi und Manuel. „Aber es haben auch schon Mitarbeiter von uns gemeinsam mit Behinderten im Internet bei Singlebörsen gesucht.“ Vor einer Weile veranstaltete die Lebenshilfe sogar eine Single-Disko im Dietrich-Keuning-Haus in Dortmund. „Das ist begeistert angenommen worden“, sagt Hennig-Gruber fast ein bisschen verlegen. „Es kamen Leute aus der ganzen Region.“

Andere Ansätze von Sexualität

Wer keinen Partner hat, lebt Sexualität manchmal auch auf anderen Wegen aus. Das gilt für Menschen mit und ohne Behinderung. Bei letzteren bemerkt es das Umfeld aber eher, allein weil regelmäßig Betreuer in der Wohnung vorbeischauen. „Man erlebt hier ganz andere Formen und Ansätze von Sexualität“, berichtet Hennig-Gruber. „Ein junger Mann in einer WG hatte sein ganzes Zimmer vollgehängt mit pornographischen Postern. Das kann er natürlich machen, es ist ja sein Zimmer.“ Ein anderer hatte die Angewohnheit, an der getragenen Wäsche seiner Mitbewohner zu riechen. Das merkten die erst, als einzelne Wäschestücke fehlten. Hennig-Gruber: „Da hört die Freiheit des einen dort auf, wo die des anderen anfängt. In dem Fall haben die Mitbewohner gesagt, er kann das ruhig machen, solange wir unsere Wäsche wiederbekommen und sie nicht verloren geht. Ziemlich tolerant eigentlich.“

Generationenunterschied

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Das Wohnheim in Dortmund Bodelschwingh. 24 Erwachsene wohnen hier zusammen in einem Haus. Die Altersspanne reicht von 22 bis 67 Jahre.

Bei allen Fragen rund um Liebe, Sexualität und Aufklärung sieht Hennig-Gruber einen deutlichen Generationen-Unterschied. Es gebe viele behinderte Menschen, die erst mit 40 oder 50 Jahren von zu Hause auszögen, weil die Eltern zu alt würden, um sich weiter um sie zu kümmern. „Da gibt es Sexualität in dem Sinne oft nicht.“ Die einzigen körperlichen Erfahrungen, die diese Menschen gemacht hätten, sei oft Kuscheln. Ähnliches beobachtet auch Nadine Skiba im Wohnheim. Während die Jüngeren ganz gut Bescheid wüssten, gebe es bei den Älteren ganz klare Lücken. „Die wissen teilweise gar nicht so genau, was sie an ihrem Körper haben, was einen Frauenkörper ausmacht, was einen Männerkörper“, erzählt Skiba. „Und es kommen auch so Sachen wie: ‚Mama sagt, küssen darf ich nicht. Davon werde ich schwanger.'“

Steffi und Manuel sind inzwischen verlobt. Sie will am liebsten sofort heiraten, er lieber nicht. Manuel: „Ich hab‘ das früher bei meinen Eltern gesehen. Die waren verheiratet, und dann haben sie sich scheiden lassen. Das will ich nicht. Dann lieber verlobt bleiben.“ Steffi sagt nur: „Ich bin einfach froh, dass ich ihn hab'“ und grinst.

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