Ruhr-Literatur: Mehr als ein „gekotzter Fleck Arbeit“

Zeche und Literatur, Bergbau und Prosa – was auf den ersten Blick unvereinbar scheint, weist eine lange Tradition im Ruhrgebiet auf. Vor 50 Jahren schlossen sich Autoren aus dem Milieu der Bergarbeiter und Zechenkumpel aber auch Journalisten und Lektoren in der Dortmunder Gruppe 61 zusammen. Jetzt feierten sie ihr Jubliäum.

Die Gruppe 61 bei einem ihrer ersten Treffen. Foto: Fritz-Hüser Institut

Die Gruppe 61 bei einem ihrer ersten Treffen. Foto: Fritz-Hüser-Institut

Das Fritz-Hüser-Institut veranstaltete zusammen mit der TU Dortmund eine Tagung über „Schreibarbeiten an den Rändern der Literatur – Die Dortmunder Gruppe 61“, die sich der besonders realitätsnahen Literatur widmete. Die Tagung fand im Begleitprogramm zu einer Ausstellung im Museum für Kunst und Kulturgeschichte statt.

Schreibende Arbeiter wurden sie auch verächtlich genannt, Autoren wie Max von der Grün, Josef Reding und Günter Wallraff, deren Werke von den Lebensrealitäten in der Arbeitergesellschaft des Ruhrgebiets der 60er Jahre erzählten. Die Arbeit formte die Alltagskultur im Revier mehr als alles andere. „Das Ruhrgebiet ist ein auf die Landkarte gekotzter Fleck Arbeit“ schrieb der Schriftsteller Wolfgang Körner. Die Gruppe wollte sich deshalb auf literarisch-künstlerische Weise mit der industriellen Arbeitswelt im Ruhrgebiet und den bestehenden sozialen Problemen auseinandersetzen.

„Freizeit im Revier – Zeche, Dusche und dann Discothek“

Dies spiegelte sich in den Werken der Gruppe wieder, die sich mit Betriebssicherheit, Bespitzelungen, Korruption und mit dem alltäglichen Leben außerhalb der Zeche befassten. Auf einmalige Art und Weise wurde so die soziale Topografie des Ruhrgebiets, also das Lebensumfeld der Menschen, greifbar. „Freizeit im Revier – Zeche, Dusche und dann Discothek“ heißt ein WDR-Beitrag von Wolfgang Körners aus dem Jahr 1972. Körners beschreibt dort den Alltag des typischen Revierbewohners. Die unmittelbare Arbeitswelt löste als neues literarisches Genre die bis dato intensive Beschäftigung der Deutschen mit ihrer jüngeren NS-Vergangenheit ab.

Von der TU Dortmund referierten unter anderem Julian Othues (li.) und Tobias Lachmann. Foto: Selina Duelli

Von der TU Dortmund referierten unter anderen Julian Othues (li.) und Tobias Lachmann auf der Tagung. Foto: Selina Duelli

„Schreibende Arbeiter organisiert euch!“

Tobias Lachmann von der TU stellte in seinem Vortrag den literarischen Aktivismus des Schriftstellers und Druckers Peter-Paul Zahl vor. „Schreibende Arbeiter, Angestellte, Hausfrauen, Beamte, Schüler und Studenten organisiert euch“ forderte dieser einstmals. Er wollte der der stummen Mehrheit in der Gesellschaft eine Stimme geben und griff damit Literaturpäpste wie Marcel Reich-Ranicki an. Die Gruppe zerrte Lyrik und Prosa aus dem Dichterhimmel der exklusiven Künstlerkreise in die Realität und demokratisierte das Schreiben.

Poetry Slams und Hip Hop im Ruhrgebiet

Auch heute, in einer Zeit, in der das Ruhrgebiet tiefgreifende Veränderungen durch den Strukturwandel erfahren hat und das Arbeitermilieu kein dominantes Element mehr darstellt, ist das Revier Gegenstand vielfältiger künstlerischer Auseinandersetzungen. Auf Poetry Slams und im Hip Hop wird die Gruppe 61 von jungen Künstlern aus dem Ruhrgebiet weitergeschrieben. Aus der heutigen Zeit heraus wird das Ruhrgebiet in seiner Realität thematisiert.

In der literarischen Szene ist das Ruhrgebiet ein „cooler, hipper aber geerdeter Gegenpol zu Berlin“, sagt der Jungautor und ehemalige Student der TU Dortmund Tobias Rauh. Als Tobi Katze bekannt geworden, liest er auf den Poetry Slams des Landes Stücke über Alltag und Leben im Ruhrgebiet, über Dortmunds „hippes Hafenviertel“, glitzernde Hirschgeweihe und Elvisbüsten in der Hafenschenke, über die Akzeptanz von Turnschuhen im alkoholschweren Nachtleben zwischen Kiosk und Kneipe. Als Ort thematisiert werde das Revier in der heutigen künstlerischen Auseinandersetzung damit allerdings weniger. Vielmehr würden die derbe Sprache und der dem Pott eigene Ton genutzt, um das Typische darzustellen, so Rauh.

Tobi Katze liest eines seiner Stücke. Foto: Selina Duelli

Tobi Katze liest eines seiner Stücke. Foto: Selina Duelli

Auf der Flucht vor dem Pott

Im Hip Hop wird das ambivalente Verhältnis vieler Jugendlicher zum Ruhrgebiet zwischen stolzem Patriotismus und sozialen Problemen thematisiert. „Es gibt wenig Sonne, keine Elbe, kein Rhein, keine Strandpromenade, doch ein Fußballverein“ rappt „Der E1ne“ in „Dortmunds Straßen“. Im Lied „Tief im Westen“ der „Ruhrpott AG“ heißt es: „Ich bin wie Harrison Ford, vor Dir auf der Flucht. Lieb‘ Deine Oberfläche, aber hab‘ stellenweise genug“. Aus dem Herzen spricht die Gruppe wohl trotzdem vielen mit ihrer Liebeserklärung: „Du bist unvergleichlich, beschreiblich, unbegreiflich, vielseitig: Ruhrpott!“

Die Ausstellung “Schreibwelten – Erschriebene Welten” läuft noch bis 1. Mai 2011 im Museum für Kunst und Kulturgeschichte in Dortmund.

1 Comment

  • Glitzerndes Hirschgeweih sagt:

    Seli, spiegel-onlinige Überschrift! Hat mich sofort gekauft. Super Artikel, gute Bilder! Liebling: Das alkoholschwere Nachtleben zwischen Kiosk und Kneipe. Wie wahr.

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