Sendepause: Leben ohne Kommunikationszwang

Kein WhatsApp, kein sinnloses Surfen im Internet, kein Profilbild bei Facebook und keine Mails – Gottfried Stollwerk würde man in der Fachsprache einen „Digital Outsider“ nennen. Der 58-jährige Selbstversorger wohnt auf einem Hof in der Nähe von Osnabrück.

Hier lebt Gottfried Stollwerk. Fotos: Leonie Schwarzer. Teaserbild: Robert Müller/pixelio.de

Hier lebt Gottfried Stollwerk. Fotos: Leonie Schwarzer. Teaserbild: Robert Müller/pixelio.de

Im Garten liegen verstreut Tierschädel, es riecht nach gemähtem Gras. Es ist still, nur das Zirpen der Grillen und Zwitschern der Vögel durchbricht die Stille. Ein bisschen wirkt der Hof wie aus dem Freilichtmuseum, nur eben nicht so steril und sauber. Gottfried Stollwerk schreibt keine SMS, er schreibt Nachrichten mit Kreide an sein Tor. Statt einer E-Mail schickt er einen handgeschriebenen Brief. Er liest keine Zeitung, lieber kümmert er sich um seine Ziegen. Er hat sich der ständigen Erreichbarkeit entzogen, dem Kommunikationszwang.

Zur selben Zeit in einer beliebigen deutschen Großstadt. Bahnhofgedrängel, der Geruch von Bratwurst, Brezeln und Kaffee hängt in der Luft, aus den Lautsprechern dröhnen die zahlreichen Verspätungen. Hektisch schieben sich die Menschen durch die Bahnhofshalle, kaum einer schaut sich in die Augen. Stattdessen blicken alle auf die Displays ihrer Smartphones – noch eben schnell die Mails checken, mit der App die Bahnverbindung nachschauen oder dem Chef schon mal sagen, dass man leider zu spät zur Besprechung kommt. Ständig erreichbar sein, immer online, immer up to date – das ist in inzwischen  Teil unseres Selbstbildes geworden.

Kommunikationszwang ist auch Sich-Wert-Zusprechen

„Es gehört mittlerweile dazu, für den anderen ständig erreichbar zu sein“, erklärt Michael Roslon, Kommunikationswissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen. „Kommunikationszwang zu haben, ist auch ein gegenseitiges Sich-Wert-Zusprechen. Wenn ich für dich erreichbar bin, dann musst du auch für mich erreichbar sein.“ Bedeutet: Wenn ich um 3 Uhr nachts meinen besten Freund aus dem Schlaf klingele, dann darf der auch davon ausgehen, dass mein Handy jede Nacht für ihn an ist. Wer auf eine WhatsApp-Nachricht drei Tage lang keine Antwort bekommt, wird unruhig. Was ist passiert? Kommunikationszwang sei ein soziologisches Problem der Identität, erklärt Roslon: Die ständige Erreichbarkeit wird Teil der Persönlichkeit. Früher erwartete man frühestens nach einer Woche einen Antwortbrief, heute wundern wir uns, wenn bis zum Abend keine E-Mail gekommen ist.

Gottfried hängt seine Wäsche zum Lüften auf. Fotos: Leonie Schwarzer

Gottfried hängt seine Wäsche zum Lüften auf. Fotos: Leonie Schwarzer

Bei Gottfried Stollwerk ist alles noch wie „früher“ – Kommunikationszwang kennt er nicht. Er lebt wie vor 200 Jahren, nicht einmal eine Dusche besitzt er. Seine Wohnung ist spärlich eingerichtet, es riecht ein bisschen nach Dachboden und vergangenen Zeiten. An der Decke hängen Säcke voll Maiskolben, seine Kleidung lüftet er an langen Wäscheleinen aus. Er zeigt auf seinen roten Wollpulli: „Der ist bestimmt zwei Monate nicht gewaschen.“ Trotzdem riecht es nicht unangenehm in seiner Wohnung. Stollwerk wäscht mit kaltem Wasser und Asche, höchstens zweimal im Jahr.

Hauptsächlich trägt er Wolle und Leder – das stinkt nicht so schnell. Er kauft auch nicht im Supermarkt ein – höchstens mal Getreide, Brot, Öl, Streichhölzer oder Klopapier. Seine Frau und seine zwei Söhne sind vor einigen Jahren ausgezogen, sie leben jetzt ganz „normal“. Den Unterhalt für seine Kinder kann Gottfried Stollwerk zahlen, weil er Wohnungen vermietet. Er ist schlank und sehnig, hat Muskeln vom Sensen mit der Hand. Einmal in der Woche fährt er mit dem Fahrrad nach Osnabrück, um Tango zu tanzen. Mit Smalltalk und Gruppen tue er sich schwer, beim Tanzen könne er am besten mit anderen Menschen in Kontakt treten, sagt er. Manchmal fährt er auch umsonst – die Terminabsagen kommen per Mail.  Zu Workshops kann er sich häufig nicht anmelden, weil die Angebote im Internet stehen.

Das Zuhause wird zur Theaterbühne

Das Internet dringt in alle Bereiche – Michael Roslon nennt das Mediatisierung. Öffentlichkeit und Privatheit verschwimmen zunehmend, wir lassen unsere Facebook-Freunde in unser Zuhause blicken. „Die Medien sind zum Fernrohr in private Räume geworden, und das beobachten wir seit dem Aufkommen des Privatfernsehens etwa um die 2000er Wende“, erklärt Roslon. Unser mediales Selbstbild wird täglich gefüttert: Ständig ist die Webcam an, wir posten Bilder vom romantischen Abendessen und aktualisieren vorm Schlafengehen noch schnell den Status – das Zuhause ist kein Rückzugsort mehr, sondern manchmal eine Theaterbühne. Die heutige Gesellschaft ist öffentlich, wir interpretieren uns vor allem durch die Außenwahrnehmung.

„Auch in kleinen Dorfgemeinschaften war es früher so, dass man unter gegenseitiger Beobachtung stand“, sagt Roslon. „Heute öffnen wir die Welt durch die Medien, überwinden Raum und Zeit.“ Gerade das ist aber ungesund, denn die klare Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit ist wichtig für unser Wohlbefinden. „Soziologisch gesehen sind das Grenzen, die ein Mensch klar gezogen haben muss“, erläutert Roslon. Menschen brauchen Räume, die eindeutig identifizierbar sind – Arbeits- und Freizeitwelt müssen getrennt sein. „Durch die Transparenz in den Medien ist es immer schwieriger sich zurückzuziehen“, sagt auch Diplom-Psychologe Manfred Tetzlaff aus Dortmund. „Das ist ein zusätzlicher Stressfaktor für die Menschen.“ Zuhause ankommen, die gemütliche Schlafanzughose anziehen und abschalten – das ist wichtig, um zu entspannen.

Zumindest für Gottfried beginnt der Tag entspannt – morgens gegen 5 Uhr steht er auf und meditiert erst einmal eine Stunde. Doch ruhig ist auch sein Tag nicht: Er muss Gemüse pflanzen, mähen, sich um den Hof kümmern. Fehlt manchmal nicht etwas? Doch, klar. Gottfried Stollwerks ältester Sohn ist seit kurzem in Kairo und lebt völlig anders als sein Vater. Auf Briefe antwortet er nicht, er kennt das einfach nicht so. „Der Kontakt leidet, die Kommunikation leidet. Aber wenn ich das unter dem Strich so sehe: Der Ältere ist im Ausland, und wenn wir uns sehen, dann ist das gut. Und wenn er weg ist, dann ist er eben jetzt weg.“ Vor vielen Jahren hat Gottfried Stollwerk studiert, in der Stadt gelebt. Ab und an liest er alte Zeitungen, aber eigentlich möchte er sich damit gar nicht beschäftigen. „Ich reg mich darüber nur auf, ich kann sowieso nichts ändern“, sagt er. Die Geschichten aus der Welt sind ihm zu komplex, die Informationen zu einseitig und ungenau. Dann verzichtet er lieber ganz.

Seite 2: Macht uns die ständige Erreichbarkeit krank?

3 Comments

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert