Ausflug ins Reich der Zahlen

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„Zwei mal drei macht vier, widewidewitt und drei macht neune!“ Pippi Langstrumpf hatte noch nie Lust auf Regelwerk. Das hat Nils Waßmuth mit dem Rotschopf aus der Villa Kunterbunt gemeinsam: In der Oberstufe hat er die Regeln gebrochen, die die Mathelehrer ihm auferlegten. Trotzdem – oder gerade deswegen – wurde er Bundessieger in Mathematik/Informatik bei „Jugend forscht“. Unser Autor hat sich einem Crash-Kurs unterzogen – und ist erst einmal gnadenlos gescheitert.

Wer kennt noch die Null-Produkt-Regel? Die geht so: Wenn einer der beiden Faktoren Null ist, ist das Ergebnis auch gleich Null. Schon einmal versucht die Wurzel aus einer negativen Zahl zu ziehen? Das ergibt Error: Der Taschenrechner streikt. Doch genau hier beginnt der Bereich der komplexen Zahlen – das Spielfeld von Nils Waßmuth, der mit seiner Forschung „Zurück zu den Wurzeln“ über die sogenannten Sedenionen das diesjährige Sieger-Preisgeld bei „Jugend forscht“ von 2500 Euro absahnte.

Klar soweit?

„Sedenionen sind komplexe Zahlen, die in 16 Dimensionen existieren“, beginnt Nils seinen Crash-Kurs in höherer Mathematik, schreibt mit der Kreide einige i’s auf die Tafel und setzt bei mir damit den Prozess der Überforderung in Gang. Dimensionen? Mit einer Selbstverständlichkeit führt er seinen Vortrag fort, lässt die Kreide wenig später fallen und blickt mir in die Augen: „Klar soweit?“

Vor mir steht kein Abziehbild eines Mathematiker-Stereotypen, sondern ein junger Mann, der scheinbar gar nicht weiß, wie schwierig es ist, das Thema – sein Thema – zu verstehen, an dem er schon seit über drei Jahren forscht.

Die Suche nach dem „Mehr“

Schon in der Oberstufe nahm Nils an der Matheolympiade teil, eilte von Runde zu Runde und verbrachte in Folge dessen seine Sommerferien nicht unter der spanischen Sonne, sondern im Mathematik-Sommercamp. „Dort hielt der Professor einen Vortrag über vierdimensionale Zahlen. Im internationalen Camp, zu dem ich auch eingeladen wurde, waren es dann schon acht Dimensionen“, beschreibt er die ersten Kontakte mit den komplexen Zahlen und den Wunsch, noch einen drauf zu setzen. In der elften Klasse reicht er seine Facharbeit über die Sedenionen ein.

Die Vier-, oder Achtdimensionalität überspringt er gleich – ich muss seinen Vortrag unterbrechen und einhaken. Ein einfaches Beispiel ist von Nöten. Etwas, das für Jedermann verständlich ist. Auch für die, bei denen die Zahlen in der Abitur-Klausur eher Samba tanzten als Sinn zu ergeben. Es ist der einzige Moment an diesem Vormittag, an dem Nils länger nachdenken muss. Ich merke, dass dieses Feld nichts Pragmatisches an sich hat. „Wofür lernen wir das überhaupt?“, fragt der Schüler. „Für Quantencomputer vielleicht“, erwidert Nils.

Zurück zu den Wurzeln

DSC_1002Ich nehme die Kreide selbst in die Hand und bilde die Wurzel aus 9, nämlich 3. Applaus erwarte ich dafür nicht, doch die Tatsache, dass der Mathematik-Student zwei Tische weiter seinen Laptop zusammenklappt und ebenfalls zuhört, macht mich nervös. „Wurzel aus -9 ist nicht möglich, wenn die Regel stimmt.“  Es sei denn, „wir begeben uns in den besagten Bereich und hängen ein i an die 3“, werde ich ergänzt. „Das i steht für √-1. 3 x √-1 ist √-9.“ Oh je.

Nils beschreibt die Momente, in denen es „Klick“ bei ihm macht, als „unbeschreibliches Gefühl“. Meine Ernüchterung folgt prompt. Sedenionen geben einem nicht nur einen möglichen Weg zur Lösung an, sondern 30. 100 erhält man eben auch nicht nur aus zehn mal zehn. Fünf mal 20 ist auch eine Möglichkeit. Als Erklärung muss das dieses Mal reichen. Ich unterbreche nicht mehr – unser Tischnachbar kann sich das Grinsen nicht verkneifen.

Die Schulmathematik ist nur die Spitze des Eisberges.

Ich beginne so langsam zu verstehen, warum unsere Mathelehrer Regeln aufstellen. Ja, es gibt negative Wurzeln und die Null-Produkt-Regel hat auch ihre Ausnahmen. Aber so mancher Schüler schaltet irgendwann ab. Die Schulmathematik sei die Spitze des Eisberges und statisch, beschreibt Nils die Differenz zwischen seinem Anspruch und der Realität. „Die weitere Mathematik ist unter der Oberfläche. Größer und dynamisch!“

Normal unnormal

Es ist nicht der erste Vortrag, den Nils über dieses Thema hält. Erst am vergangenen Wochenende überzeugte er die Jury im Bundesfinale von „Jugend forscht“ und wurde mit dem ersten Platz belohnt. Nachdem eine Freundin ihn zur Teilnahme überredete, ging es über die Regionalrunde in Bonn zur Landesrunde nach Leverkusen, bis hin zum Finale. Die Leichtigkeit, die der Mathestudent ausstrahlt, ist beeindruckend. Die Ausarbeitung seiner Ergebnisse fertigte er in seiner Freizeit an – und bestand nebenbei auch noch sein Abitur mit 1,1.

Als Genie möchte er sich dennoch nicht bezeichnen. Den Begriff „überdurchschnittlich“ wählt er lieber. Die letzten Semesterklausuren, die er allesamt mit 1,0 abschloss, verleihen diesem Attribut jedoch ein gewisses Maß an Bescheidenheit. Mehr noch, die guten Noten seien teilweise Glück gewesen, sagt er. „Manchmal hat man eben diesen Geistesblitz, der die Note enorm nach oben befördert. Ich hatte nunmal einige davon, andere vielleicht nicht.“ Dabei zeichnete sich seine mathematische Auffassungsgabe schon im Kindesalter ab. In der Grundschule rechnete er bereits die Aufgaben der höheren Klassen, machte allerdings noch zu viele Flüchtigkeitsfehler. Die Folge war eine Zwei auf dem Zeugnis der dritten Klasse. Es sollte die letzte werden.

Nach seinem Studium möchte der 18-Jährige am liebsten promovieren und geht damit den selben Weg wie viele andere ehemalige Gewinner des Forschungspreises. Doch vorerst stehen andere Aufgaben auf dem Programm. Die O-Woche für die kommenden Erstis muss organisiert werden, ganz sicher ohne Sedenionen. Außerdem soll ein Teil des Preisgeldes für einen Urlaub herhalten, ohne Mathe-Sommercamp.

Denn anders als Pippi Langstrumpf ist Nils Waßmuth nunmal keine fiktive Romanfigur. Er durchbricht die Regeln nicht aus reiner Rebellion heraus, sondern aus der Lust am Wissen. 

Teaserfoto: Matthias Preisinger / pixelio.de

Beitragsfoto: Stiftung Jugend forscht e.V.

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