Eine Leiche für zehn Studenten

„Herr Hohn, wir haben ein Problem mit unserer Leber. Können Sie uns helfen?“ fragt eine Studentin. „Ist Ihnen denn noch zu helfen? Wenn Sie Probleme mit der Leber haben, dann müssen Sie weniger trinken“, rät Hohn, der immer wieder versucht, die Atmosphäre aufzulockern, und folgt ihr, um sich das Ganze aus der Nähe anzusehen. Der 55-Jährige kann über sich selbst lachen. „Ich bin manchmal böse. Aber ich bin ein Produkt meiner Umwelt“, sagt er grinsend. Der lockere Umgang im Kurs ist ihm wichtig. Allein schon, um den Studenten den Grusel zu nehmen, den manche mit den „Präparaten“ verbinden. Präparate, nicht Leichen oder Körper. Als wissenschaftliche Objekte sollen die Studenten die sterblichen Überreste der Körperspender sehen. „Ich versuche von Anfang an zu versachlichen“, erklärt Hohn, und sein Blick wird forsch. „Trotzdem erwarte ich Respekt und Pietät.“

In der Öffentlichkeit abfällig über die Präparate zu reden, das sei verboten. „Sonst muss ich schon mal auf den Tisch hauen“, sagt Hohn und beugt sich über die problematische Leber. Er ist überzeugt davon, dass die Arbeit mit menschlichen Leichen unabdingbar ist, um Mediziner zu werden. Davon, dass in anderen Ländern nur Modelle benutzt werden, hält er wenig. „Anatomie muss man begreifen. Wenn man an echten Präparaten arbeitet, dann verinnerlicht man viel besser.“ Auch, dass die Studenten bereits im ersten Semester damit beginnen, hält er für richtig. Früher begann der Kurs im dritten Semester. Um das Studium zu entzerren wurde er ins erste Semester verlegt. „Früher brachen manche Studenten im dritten Semester ab oder quälten sich, weil sie zu dem Zeitpunkt nicht mehr aufhören wollten“, weiß Hohn. Dennoch will er nicht unbedingt einen Zusammenhang zwischen Abbrecherquote und Präparierkurs herstellen.

Psychologische Hilfe für Studierende

Das richtige Werkzeug und Kenntnisse über den menschlichen Körper sind von Nöten. (Foto: Sophie Mono)

Das richtige Werkzeug und Kenntnisse über den menschlichen Körper sind von Nöten.

„Vor zwei Jahren haben wir Gruppengespräche angeboten, in denen die Studenten von ihren Problemen berichten konnten. Aber diese wurden kaum genutzt. Deshalb bieten wir jetzt nur noch eine Anlaufstelle mit Psychologen, zu denen die Studenten einzeln kommen können, wenn sie mögen.“ Nachdem sich die Studenten an den Kursus gewöhnt haben, ist das Hauptproblem oft nicht mehr der Umgang mit den Toten. Statt der Nerven reizt das Präparieren auch die Schleimhäute: Der beißende Formalingeruch bringt so manch einen an seine Grenzen.

Genau wie Sarah kostete das Präparieren viele Studenten zu Beginn Überwindung, doch nur sehr wenige mussten sich übergeben, kippten um oder brachen ihr Studium ab. „Die meisten die abbrechen, tun es wegen des Lernstresses“, vermutet Niko Meinhard. Der 21-Jährige arbeitet an Tisch 10. Gebannt schaut er auf das Herz, dass die studentische Hilfskraft Meike Diekgers in der Hand hält. Er scheint gut aufgepasst zu haben, weiß, wo die Herzkranzgefäße sind. „Ich kenne ein paar Leute, die Alpträume hatten“, gibt Diekgers Kollegin Anja Plenz zu. Dennoch ist auch die Fünftsemestlerin der Meinung, dass es gut sei, bereits im ersten Semester mit dem Kurs anzufangen. Niko war von Anfang an unerschrocken. „Ich bin Rettungssanitäter, habe also auch schon vorher mit Leichen zu tun gehabt.“

„Die Studenten sollen sich mit dem Tod auseinandersetzen“

Am Ende des dritten Semesters wird sich herausstellen, ob Niko auch so bodenständig bleibt, wenn die persönliche Ebene wieder mit ins Spiel gebracht wird. Denn dann wird er bei der Beisetzung der Körperspender den Leichnam von dem Menschen tragen, den er an Tisch 10 über ein Jahr lang präpariert hat. „Es ist wichtig, am Ende den Bogen wieder zu spannen“, findet Hohn, der soeben das Leberproblem gelöst hat.

Die anfängliche Versachlichung soll am Ende des Kurses wieder aufgelöst werden, damit die Medizinstudenten nicht zu sehr abstumpfen. Sie erfahren die Namen der Verstorbenen und bereiten selbst die Trauerfeier für die Angehörigen vor. Manche als Chorsänger, manche als Orchestermusikanten, manche als Textsprecher und manche, so wie Niko, als Sargträger. „Die Studenten sollen sich mit dem Tod auseinandersetzen, auch wenn er in unserer Bevölkerung noch immer ein Tabuthema ist“, sagt Hohn. Dankesbriefe von Angehörigen der Körperspender zeigen ihm, dass er seinen Studenten den richtigen Umgang mit dem Tod und den toten Körpern vermittelt hat. Einen Umgang, der sowohl Respekt als auch Furchtlosigkeit beinhaltet.

Text und Fotos: Sophie Mono

Die Überwindung des Ekels: Medizin-Studentinnen im Interview

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