Auf einen Lauf mit Jens Vieler

Die Laufsaison hat begonnen. Die sommerlichen Temperaturen locken viele Sportler in die Parks und Grünanlagen. Als läuferischer Ritterschlag gilt gemeinhin der 42,195 Kilometer lange Marathon. Jens Vieler kommt dann erst so richtig ins Rollen, er kann einen Marathon als Aufwärmprogramm benutzen. Der 44-Jährige ist ein sogenannter Ultramarathonläufer. Es gibt kaum einen extremen Lauf, den er auslässt.

24-Stunden Läufe, 6-Tage-Rennen oder einen Berglauf durchs Montblanc-Massiv. Dazu ist er der Gründungsvater und Organisator von Deutschlands längstem non-stop Ultralauf, der „Tortour de Ruhr“ von der Quelle der Ruhr in Winterberg bis zur Mündung in den Rhein bei Duisburg: höllische 230 Kilometer. Wie tickt eigentlich so ein Ultraläufer?

Und los geht's. Der Profi gibt das Tempo vor. Foto: Philipp Ziser

Und los geht's. Der Profi gibt das Tempo vor. Foto: Philipp Ziser

Die Sonne scheint, am Himmel ist keine Wolke auszumachen: perfektes Laufwetter. Jens Vieler wartet schon im Hagener Stadtteil Hohenlimburg. Er hat kurz geschorene Haare, ein markantes Gesicht und eine Haut, der man die unendlichen Stunden in der Natur ansieht. Er ist drahtig, hat aber nicht die klassische Läufer-Figur. Vieler trägt Profi-Montur und sein
„Tortour de Ruhr“-Laufshirt. Ehe ich mich versehe, geht es los auf die knapp zehn Kilometer lange Hausstrecke des Ultraläufers.

pflichtlektüre: An was denkt man eigentlich, wenn man 230 Kilometer am Stück läuft?

Jens Vieler: Das kann man vorher gar nicht sagen. Ich nehme mir auch nicht vor, was ich denke. Es ist faszinierend. Wenn man von der körperlichen und seelischen Belastung absieht, ist es eigentlich ein sehr angenehmes Gefühl. Man denkt irgendwann überhaupt nicht mehr, auf jeden Fall nicht mehr strukturiert.

Gibt es also einen Punkt, ab dem man abschaltet und im Leerlauf ist?

Nein, es ist ein sehr komischer Zustand. Viele reden immer vom „Runners High“ und von Endorphin-Ausschüttung. Davon halte ich nichts. Alles was das soziale Empfinden, die Emotionen angeht, wird ausgeblendet. Irgendwann kannst du die Leute und die Strecke so wahrnehmen, wie sie sind, ganz ohne Wertung.

Eine Art Trance-Zustand?

Das kommt dem schon ganz nahe. Andere Leute müssen dafür Drogen nehmen…

…für dich ist das Laufen also eine Art Ersatz-Droge?

Klar. Das hat auch lange nichts mehr mit Gesundheitssport zu tun. Aber wie definiert man Sucht? Wenn einer jeden Samstag ein Bier vor der Sportschau trinkt, dann kann er wahrscheinlich auch nicht mehr ohne. Wenn ich an sechs von sieben Tagen laufe und den einen Tag die Füße nicht still halten kann, ist das sicherlich Sucht.

So sehen Finisher aus: Jens Vieler nach 230 Kilometern non-stop-Laufen. Foto: Privat 

So sehen Finisher aus: Jens Vieler nach 230 Kilometern non-stop-Laufen. Foto: Privat

Du wirst dich wundern, dass ich so langsam laufe“, hatte mir Vieler noch vor dem Start gesagt. Und in der Tat hätte ich gedacht, dass er einen Tick schneller läuft. Möglicherweise nimmt er auch nur Rücksicht auf mich. Ich muss es mir noch einmal verdeutlichen: Vielleicht ist er nicht der Schnellste, aber dieser Mann kann über 200 Kilometer am Stück laufen.

Wie bist dazu gekommen, Ultramarathons zu laufen?

Ich habe aus dem Gesundheitsaspekt heraus angefangen zu laufen. Ich hatte viel Büro- und Bildschirmarbeit, dann habe ich beschlossen, Sport zu machen. Nach einem Jahr konnte ich zehn Kilometer laufen. Dann überlegt man sich, einen Halbmarathon oder Marathon zu laufen. Ich habe aber schnell gemerkt, dass das nicht meine Welt ist. Landschaftsläufe in den Bergen gefallen mir zum Beispiel viel besser.

Wie viel Kilometer läufst du im Jahr?

Um die 5000 Kilometer. Momentan bereite ich mich auf einen Wettkampf in den USA vor, da laufe ich fünf bis sechsmal pro Woche, also ungefähr 150-200 Kilometer in der Woche.

Und an dem freien Tag gönnst du dir Ruhe?

Nicht unbedingt, Ich mache da gerne auch andere Sachen, ins Fitnessstudio gehen oder Schwimmen. Aber ich versuche zumindest, nichts zu machen.

Jens Vieler ist ein kumpelhafter Typ, das merke ich nach wenigen Metern. Er besteht bedingungslos aufs Duzen. Er stellt mir fast mehr Fragen als ich ihm. Wir reden übers Studium und seinen Job im Rechenzentrum an der Fernuni-Hagen. Beim Reden frage ich mich, ob überhaupt noch Zeit zum Atmen bleibt. Währenddessen führt uns der Weg durch ein Waldstück, wir springen über Baumstümpfe und Wurzeln.

Was ist größte Motivation zu laufen? Was treibt dich an?

Das ist schwierig zu erklären. Eigentlich kann ich das nicht erklären, das geht nicht. Warum guckt einer samstags die Sportschau?

Wahrscheinlich um sich unterhalten zu lassen.

Gut, dann unterhalte ich mich selber durchs Laufen. Wenn ein Kumpel und ich nichts vorhaben, laufen wir mal eben hundert Kilometer. Das ist keine sportliche Herausforderung mehr. Das ist ein Lebensgefühl. Zu sagen, ich kann morgens um 4 Uhr aufstehen, loslaufen und abends vorm Essen bin ich wieder zu Hause. Dann mach ich ein Bier auf und denke, heute war ein guter Tag.

Jens Vieler beim Ultra-Trail du Mont-Blanc, das größte und längste Ultra-Bergrennen Europas. Foto: Privat

Jens Vieler beim Ultra-Trail du Mont-Blanc, dem größten und längsten Ultra-Bergrennen Europas. Foto: Privat

Was war dein anstrengendster Lauf bisher?

Sicherlich der Deutschland-Lauf von Rügen bis zur Schweizer Grenze, also einmal komplett durch Deutschland. 1200 Kilometer an 17 Tagen, jeden Tag 70 Kilometer. Das war zum einen körperlich anstrengend, aber besonders auch mental.

Hast du schon einmal aufgegeben?

Ich bin insgesamt schon 150-160 Marathons und Ultras gelaufen, davon habe ich zwei bis drei aufgegeben. Einmal war ich verletzt, das andere Mal war es zu gefährlich.

Wenn du körperlich kannst, läufst du weiter?

Auf jeden Fall. Ich diskutiere während eines Laufs nicht mit mir, ob es mir noch Spaß macht, das kläre ich im Vorfeld. Wenn ich bei einem 6-Tage-Rennen im Kreis laufe, kann ich nicht nach fünf Tagen sagen, so ein Quatsch.

Gibt es eine Grenze, bei der du aufhörst?

Nein, die gibt’s nicht, aber ich hab immer noch einen gesunden Menschenverstand. Ich bin ja nicht lebensmüde, ich habe eine Frau und drei Kinder.

Er erklärt mir, dass man sich als Läufer irgendwann entscheiden muss: entweder läuft man schneller oder weiter. Nicht überraschend hat sich Jens Vieler für die zweite Option entschieden. Veranstaltungen wie der Ironman waren ihm zu hektisch, dann ist er kurzerhand auf die Doppel bzw. Triple-Strecke umgestiegen. „Da ist weniger Trubel.“

Was sind deine nächsten Ziele?

Der MIAU, das ist eine 100-Meilen-Alpenüberquerung von München nach Innsbruck, eines der Highlights dieses Jahr. Und noch einer meiner Lebensträume: der Badwater Ultramarathon.

Auch Huskie-Hündin Ronja ist eine Dauerläuferin. Jens Vieler ist mit ihr schon 100 Meilen am Stück gelaufen. Foto: Privat

Auch Huskie-Hündin Ronja ist eine Dauerläuferin. Jens Vieler ist mit ihr schon 100 Meilen am Stück gelaufen. Foto: Privat

Der „Badwater“ verläuft 217 Kilometer durchs Death Valley bei Temperaturen von über 50 Grad. Hast du eine besondere Vorbereitung dafür, gehst du in der Sauna laufen?

Nein, das macht keiner. Die Luftfeuchtigkeit ist derartig gering, das kann man in der Sauna nicht nachempfinden. Es lässt dich aber auch kein Saunabesitzer mit Laufband in die Sauna rein. Ich bereite mich mental darauf vor. Ich bleibe einfach in der Sauna zwischen zwei Aufgüssen sitzen.

Sicherlich bezeichnen dich viele als verrückt, was sagst du denen?

Das ist eine Frage, wie lange sie mir zuhören. Es ist schwierig zu erklären. Die Leute verstehen die Beweggründe nicht. Bei so schönem Wetter wie heute laufe ich einfach gerne um den Block, ich finde das schön.

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Wie bist du auf die Idee der „Tortour de Ruhr“ gekommen?

Irgendwann überlegst du dir, was man alles ablaufen könnte. Ich habe 2007 in der Zeitung gelesen, dass der Ruhrtalradweg eröffnet wurde. Da habe ich mir gedacht, 230 Kilometer ist eine Distanz, die man laufen könnte. In einer Laufzeitschrift und auf meiner Homepage habe ich dann darüber berichtet. Viele meinten dann, dass ich einen Wettbewerb daraus organisieren solle.

Die nächste "TorTour" findet an Pfingsten 2012 statt. Foto: Veranstalter

Die nächste "Tortour" findet an Pfingsten 2012 statt. Foto: Veranstalter

Läufst du noch mit?

Ich laufe nicht mehr mit, das schaffe ich nicht mehr. Ich muss die Verpflegung organisieren, die Presse, das sind 50 Stunden Programm.

Es geht nun steil den Berg hoch und ich habe das dumpfe Gefühl, dass sich Vieler sehr darüber freut, es herrscht das erste Mal Stille. „Das ist ’n guter Anstieg, ne“, sagt er und lacht. Vom vielen Reden habe ich Seitenstechen bekommen, das Atmen wird schwieriger.

Was sind Ultramarathon-Läufer für Leute?

Das mit den harten Burschen ist Quatsch. Die erste „Tortour“ hat übrigens eine Frau gewonnen. Es gibt keinen typischen Ultraläufer, aber es gibt sehr wenige junge Ultra-Läufer.

Herrscht in der Szene eine besondere Atmosphäre?

Klar, es ist ein bisschen wie eine Leidensgemeinschaft. Wenn zwei 24 Stunden auf den Beinen waren, haben sie miteinander Mitleid und viel Gesprächsstoff.

Merkst du Auswirkungen auf deinen Körper?

Die Ankunft: Nach knapp zehn Kilometern kehren wir zum Ausgangspunkt der Strecke zurück. Foto: Philipp Ziser 

Die Ankunft: Nach knapp zehn Kilometern kehren wir zum Ausgangspunkt der Strecke zurück. Foto: Philipp Ziser

Bis jetzt nicht, ich habe auch keine Knieprobleme, diese Frage kommt immer. Basketballer, Fußballer und Handballer haben oft was am Knie. Aber ich habe noch nie gehört, das jemand vom Laufen kaputte Knie bekommen hat.

Sind Menschen denn wirklich dafür ausgelegt, 230 Kilometer zu laufen?

Der Mensch ist schon dafür gebaut, das haben wir in den letzten Jahren nur verlernt. Das geht schon. Natürlich kann man nicht aus dem Stand so lange laufen, da muss sich der Körper erst daran gewöhnen, sich fünf bis zehn Jahre dafür ausrichten.

Das Seitenstechen hat sich verzogen und wir sind schon wieder am Anfang der Strecke angelangt. Die Sonne steht tief, Vieler zieht seine Sonnenbrille auf.Na, bin ich verrückt?“, fragt er. Ihm gefällt dieses Freak-Image nicht. Er versucht es nochmal mit einem Vergleich. Sein Vater stand früher stundenlang im Schrebergarten und hat dort rumgewerkelt. Das sei doch auch irgendwie verrückt. Und er laufe eben. So einfach ist das. Der Ultraläufer verabschiedet sich. Er geht gleich los ins Fitnessstudio, aufs Laufband.

3 Comments

  • Philipp Winter sagt:

    Sehr interessant. Beim „Bambinilauf“ musste ich auch lachen…blanker Hohn!;)

  • becker sagt:

    sehr schöner bericht
    gefällt mir echt sehr gut 🙂

  • Michael Jochimsen sagt:

    Sehr schöner Artikel!

    Sehr gut geschriebene Einschübe, sympathischer Typ und interessante Fragen.

    Am besten fande ich natürlich das Plakat „Bambinilauf 100km“!

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